Entscheidend für die Dynamik ist vor allem die Entwicklung der Inzidenz: Nur bei einer nachhaltigen Abnahme durch wirksame Prävention lässt sich der Anstieg bremsen.
In Deutschland hat aktuell etwa jeder zehnte Erwachsene einen ärztlich diagnostizierten Diabetes. Typ-2-Diabetes ist mit einem Anteil von über 90 % unter allen an Diabetes erkrankten Personen am häufigsten und tritt vor allem im mittleren oder höheren Erwachsenenalter auf. Mit Diabetes und seinen Folge- und Begleiterkrankungen wie Nieren- und Augenerkrankungen oder Amputationen sind viel Leid und hohe Kosten verbunden. Zur Entstehung eines Typ-2-Diabetes können verhaltensbasierte Risikofaktoren (z. B. ungünstiges Ernährungs- und Bewegungsverhalten, Adipositas) sowie nachteilige Umwelt- und soziale Rahmenbedingungen (z. B. Luftverschmutzung, soziale Deprivation) beitragen. Um den Bedarf an Präventions- und Versorgungsleistungen einschätzen und Public-Health-Maßnahmen planen zu können, sind Prognosen zur Diabetes-Entwicklung unerlässlich.
Für die mathematische Modellierung wurden verschiedene Szenarien zur Entwicklung von Inzidenz und Übersterblichkeit verwendet. Gegenüber bisherigen Auswertungen berücksichtigen die Forschenden in den aktuellen Prognosen mehrere und stärker variierende Annahmen für die Veränderung von Inzidenz und Übersterblichkeit, um das Potenzial von möglichen Public-Health-Maßnahmen zu verdeutlichen. Die Berücksichtigung von Annahmen zur Inzidenz- und Mortalitätsentwicklung in der Modellierung der zukünftigen Prävalenz und Fallzahl erlaubt auch zuverlässigere Prognosen.
Steigender Versorgungsbedarf in der Bevölkerung
Bei einem der Szenarien zum Beispiel modellieren die Forschenden auf Grundlage einer Prävalenz von 8,6 % bzw. 6,05 Millionen betroffenen Personen im Jahr 2022. Bei Annahme einer gleichbleibenden Inzidenz und Übersterblichkeit prognostizieren sie einen Anstieg auf 16,1 % bzw. auf 11,01 Millionen Personen mit Typ-2-Diabetes für das Jahr 2050.
Das Fazit der RKI-Autorinnen und -Autoren: „Alle der hier dargestellten Szenarien prognostizieren steigende Fallzahlen von Personen mit Typ-2-Diabetes bis 2050. Daraus ergibt sich ein steigender Versorgungsbedarf für Diabetes in der Bevölkerung in Deutschland verbunden mit höheren Gesundheitsausgaben ... Trotz der in der Vergangenheit beobachteten Fortschritte in der Versorgungsqualität ... besteht weiterhin ein deutliches Verbesserungspotential in der Versorgungsqualität von Personen mit Typ-2-Diabetes in Deutschland ... Für eine nachhaltige Inzidenzabnahme sind jedoch verstärkt primärpräventive Maßnahmen erforderlich. Diese sollten nicht nur Aufklärungs- und Kommunikationsmaßnahmen für eine Verhaltensänderung auf individueller Ebene umfassen, sondern insbesondere verhältnispräventive gesundheitspolitische Maßnahmen berücksichtigen, wie z. B. eine Verstärkung der Tabakkontrollmaßnahmen“.
Ziel des Buches war und ist die Vermittlung einer Wissensgrundlage, die eine Auseinandersetzung um konfliktbehaftete Themen, wie Abstandsregelungen, Masken, Kindergarten- und Schulschließungen mithilfe von Studienwissen befördert. Zielgruppe sind alle, die sich auf wissenschaftlicher Grundlage über Corona informieren wollen. Angesprochen sind alle, die sich persönlich oder in Gremien mit der Aufarbeitung der Pandemie befassen.
Hintergrund: Für ärztliche Leserinnen und Leser bietet das Werk einen besonderen Mehrwert: Es verknüpft klinische Perspektiven mit epidemiologischen und sozialmedizinischen Analysen und erleichtert so die differenzierte Einordnung von Studienergebnissen und politischen Maßnahmen. Die klare Gliederung, die konsequente Quellenprüfung und die Einbettung juristischer sowie gesellschaftlicher Aspekte machen das Buch zu einer verlässlichen Referenz, wenn es um fundierte Orientierung in der Aufarbeitung der Pandemie und um Lehren für künftige Krisen geht.
Das eBook steht zum kostenfreien Download als PDF im Internet zur Verfügung.
Ein Alleinstellungsmerkmal ist die generative Fähigkeit von Delphi-2M: Es berechnet nicht nur punktuelle Risiken, sondern simuliert komplette individuelle Krankheitsverläufe über einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren.
Im Gegensatz zu herkömmlichen Modellen, die meist auf eine einzelne Erkrankung zugeschnitten sind, erlaubt Delphi-2M eine umfassende Vorausschau auf die multimorbide Zukunft von Patientinnen und Patienten. Berücksichtigt werden nicht nur demografische Daten, sondern auch die gesamte bisherige Krankengeschichte, wobei sich typische Cluster von Diagnosen abzeichnen – etwa gastrointestinale Erkrankungen oder psychische Störungen – , die wiederum das Risiko für Folgeerkrankungen erhöhen. Die Modellarchitektur wurde eigens an die Besonderheiten medizinischer Langzeitdaten angepasst, unter anderem durch eine kontinuierliche Alterskodierung und ein exponentielles Wartezeitmodell für das nächste Ereignis.
Neben vielversprechenden Ergebnissen legt die Studie aber auch Grenzen offen. Delphi-2M spiegelt zwangsläufig Verzerrungen seiner Trainingsdaten wider, etwa die Unterrepräsentation bestimmter Krankheitsbilder oder die Abhängigkeit von der Art der Datenerhebung. Zudem stammt das Ausgangsmaterial primär aus der UK Biobank, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer tendenziell gesünder und sozioökonomisch besser gestellt sind als die Allgemeinbevölkerung. Eine externe Validierung mit fast zwei Millionen dänischen Registerdaten zeigte eine gute Übertragbarkeit, allerdings mit einem leichten Rückgang der Modellleistung.
Trotz dieser Einschränkungen weist Delphi-2M neue Wege für Prävention und Versorgungsplanung. Es könnte dazu beitragen, Hochrisikopersonen frühzeitig zu identifizieren, Screening-Empfehlungen stärker zu individualisieren und den langfristigen Versorgungsbedarf ganzer Bevölkerungsgruppen besser abzuschätzen. Die Autoren betonen jedoch, dass Delphi-2M derzeit ein Forschungsinstrument ist und die abgebildeten Assoziationen nicht als kausale Zusammenhänge missverstanden werden dürfen. Perspektivisch könnte die Integration weiterer Datenebenen - etwa Biomarker, Genom- oder Freitextdaten – die Genauigkeit und Anwendbarkeit des Modells noch erheblich steigern.
Hintergrund: Delphi-2M wurde mit Daten von 402.799 britischen UK-Biobank-Teilnehmer:innen trainiert und auf >1.000 Krankheiten angewandt. Als Input-Daten benutzte das Modell ICD-10-basierte Krankheitsereignisse, Alter, Geschlecht und Lebensstil-Informationen (Rauchen, Alkohol, BMI), jedoch keine Daten aus elektronischen Gesundheitsakten.