Die Anforderungen an niedergelassene Ärztinnen und Ärzte haben sich verändert. Längst ist weit mehr gefragt als medizinisches Können: Wer eine Praxis leitet, ist emotionale Bezugsperson und für die Teamkultur zuständig. Doch Teamkultur entsteht nicht von allein – und gute Führung braucht mehr als fachliche Exzellenz.
Ob Familienpraxis in zweiter Generation oder Neugründung mit Idealismus – viele Ärztinnen und Ärzte starten mit klarem Fokus auf ihre medizinische Expertise. Doch wer heute eine Praxis führt, merkt schnell, dass dieses Können allein nicht ausreicht, um ein Team gut zu führen – und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter langfristig zu binden. Das spüren auch diejenigen, die ihre Praxen schon Jahre oder Jahrzehnte betreiben.
Die Liste der Erwartungen an Chef oder Chefin ist lang: Beteiligung statt Ansage, Verständnis für die Anforderungen in allen Praxisbereichen, verständliche Vermittlung von Entscheidungen. Das verlangt ein neues Selbstverständnis: Erfolgreiche Praxisleitung baut nicht mehr nur auf Wissen, sondern auch auf Haltung. Sie erfordert Selbstreflexion mit dem Ziel, Führung als gemeinsame Entwicklung zu denken – nicht als autoritäre Rolle.
Wenn der Kopf täuscht – Denkfehler unter Druck
Unter Stress greift man oft zu Denkabkürzungen. Die Psychologie spricht von kognitiven Verzerrungen: unbewusste Denkfehler, die Wahrnehmung und Entscheidungsfindung verzerren – gerade dann, wenn es auf Klarheit ankommt:
Diese Muster sind menschlich – und doch wirken sie immer wieder gegen eine klare, tragfähige Leitungskultur. Oft entstehen diese Denkfehler aufgrund tief verankerter automatisierter Muster – sogenannten emotionalen Überlebensstrategien. Sie haben sich meist früh im Leben gebildet, um in belastenden Situationen handlungsfähig zu bleiben. Im Jetzt zeigen sie sich z. B. als übermäßige Kontrolle oder Harmoniesucht. Wer seine Muster erkennt, kann neue Spielräume schaffen: für Präsenz, für bewusste Leitung, für klare Kommunikation – und für eine Führung, die sich nicht mehr unbewusst selbst im Weg steht.
Embodiment – klug leiten heißt körperlich präsent sein
Der Weg zur Veränderung, also zur klaren Führung, führt aber nicht zuerst über den Kopf, sondern beginnt im Körper. Wahrnehmung, Entscheidungsfähigkeit und Beziehungsqualität entstehen im Zusammenspiel von Nervensystem, Körperzustand und mentaler Steuerung. Gedanken und Handlungen sind körperlich mitverankert. Muskeltonus, Haltung, Atmung, Mimik – sie alle sind nicht bloß Begleiterscheinungen, sondern Ausdruck innerer Zustände. Sie beeinflussen, wie man spricht, entscheidet und letzlich führt. Kluge Leitung braucht Körperkontakt – mit sich selbst. Denn Stress, alte Muster und automatische Vermeidung zeigen sich häufig zuerst körperlich. Erst danach erkennt man sie gedanklich.
Es hilft deshalb, bei voller Agenda in einer ruhigen, souveränen Haltung zu bleiben. Wer den eigenen Körper als Frühwarnsystem nutzt, kann Anspannungen regulieren, bevor eine Situation eskaliert. Allein über die Atmung lässt sich direkt auf das Nervensystem Einfluss nehmen.
Wie der empathische Hausarzt. Sein Team ist eingespielt, auf den ersten Blick läuft alles gut. Doch in Besprechungen wird es auffallend ruhig: Kritik bleibt unausgesprochen, Entscheidungen ziehen sich. Auch der Arzt selbst vermeidet klare Ansagen aus Angst, jemanden zu verletzen. Ein klassisches Groupthink-Muster, verstärkt durch seine innere Maxime: Ich muss für Harmonie sorgen.
Im Coaching wird gemeinsam eine kritische Teamsitzung analysiert. Danach beginnt ein kraftvolles Embodiment: Der Arzt richtet sich auf, nimmt Raum ein, spürt den inneren Wertekonflikt – Harmonie versus Struktur – und hält die Spannung bewusst aus. Er atmet währenddessen ruhig durch die Nase ein und durch den Mund etwa doppelt solange wieder aus. Mit einer Hand berührt er intuitiv seinen Kehlkopf, fokussiert auf den Klang seiner Stimme; mit der anderen macht er eine Stopp-Geste. Stand, Stimme und Atem greifen ineinander – ein neuer Gedanke entsteht und ermöglicht neues Verhalten. Schließlich sagt er mit großer Klarheit: „Ich sehe Ihren Punkt – und bleibe bei meiner Entscheidung.“
Seine Kraft ist nicht nur erlaubt, sondern reguliert. Er erlebt stärkere Präsenz. Die Wirkung im Team: mehr psychologische Sicherheit, offenere Kommunikation, höhere Arbeitszufriedenheit. Klarheit wird spürbar. Nicht gegen, sondern mit seinem Team.
Kluge Leitung entsteht also nicht im Kopf, sondern im Zusammenspiel von Haltung, Gefühl und körperlicher Resonanz.
Eine gute Führung der Mitarbeitenden bedeutet, die Teamleitung ganzheitlich zu denken – über den Kopf hinaus. Basis dessen ist, die eigene emotionale Präsenz zu stärken. Ein emotionsfokussierter Coachingansatz kann helfen.
Die Autorin
Ellen Flies
Diplom-Psychologin, approbierte Psychotherapeutin und Gründerin des Coaching-Instituts Bonn.
Bildnachweis: Fotoatelier Herff