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Kongress-Ticker

Mannheim / Hybrid – Oktober 2021

DSG-Kongress-Ticker: Neues aus der Schmerzmedizin

Dr. rer. nat. Christine Reinecke

23.11.2021

Small Fiber – Pathologie ursächlich +++ Cannabis auf Rezept – Evidenz vs. positive Effekte +++ Kopfschmerzen bei Kindern +++ Kopfschmerzen bei COVID-19 +++ Long COVID – Starker Schmerz +++ Tumorschmerzen – Therapieziel dauerhafte Verträglichkeit +++ Migräneprophylaxe – Effekte auf Wohlbefinden und Produktivität

Fibromyalgie-Patienten (hauptsächlich Frauen) leiden unter chronischen muskuloskelettalen Schmerzen und zusätzlich unter Müdigkeit, Schlafstörungen oder depressiven Verstimmungen. Die Fibromyalgie ist eine Ausschlussdiagnose, denn Schäden an Muskeln und Gelenken können nicht festgestellt werden, so Prof. Dr. med. Nurcan Üçeyler (Würzburg). Die Ursache ist nach wie vor ungeklärt. Üçeylers eigene Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Neuropathie der kleinen, schmerzleitenden Fasern beteiligt ist. Diese führt zu Missempfindungen und einer übersteigerten Schmerzwahrnehmung. Eine aktuelle immunologische Arbeit wies außerdem bei einem Teil der Patientinnen spezielle Antikörper nach, die gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind. Bei der Identifizierung von Subgruppen helfen möglicherweise auch natürliche Killerzellen, die bei Fibromyalgie-Patienten peripher zum Teil reduziert, ansonsten aber überaktiv sind. Für die Praxis relevant sind die S3-Leitlinien mit ihren multimodalen, nicht medikamentösen Therapieempfehlungen. Für die Fibromyalgie ist kein Arzneimittel zugelassen.

Cannabis auf Rezept – Evidenz vs. positive Effekte

„Die Behandlung chronischer Schmerzen mit medizinischem Cannabis steht im Spannungsfeld von ­finanziellen Interessen, Hoffnungen der Betroffenen und einer nicht nachgewiesenen Effektivität“, so Prof. Dr. med. Frank Petzke (Göttingen). Seit mehr als vier Jahren können Cannabisblüten und -extrakte sowie cannabisbasierte Arzneimittel verschrieben werden, auch wenn es dafür keine Zulassung gibt. Möglich ist das bei schwerwiegenden Erkrankungen wie ­bestimmten Epilepsie-Formen, bei schmerzhafter Spastizität bei Multipler Sklerose und bei Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie – vorausgesetzt, andere Therapieoptionen versagen. Weitere Indi­kationen, auch Schmerzen, benötigen ein beson­deres Antragsverfahren, bei dem extrem heterogene ­Kriterien und intransparente Entscheidungen auffallen würden.

In 2022 steht die finale Auswertung der gesetzlich geforderten Begleiterhebung an. Etwa zwei Drittel der 10 000 dokumentierten Patienten berichten über positive Effekte nach einem Jahr Behandlung, vor allem bei chronischen Schmerzen. Vor dem Hintergrund einer möglichen Legalisierung von Cannabis plädierte Petzke dafür, die Indikationen nicht in die Breite auszuweiten und die Patienten vor unerfüllbaren Hoffnungen zu schützen („hilft gegen alles“). Dazu sollte die Evidenz verbessert werden. Generell gibt es wenige Originalarbeiten, es besteht keine Evidenz für Cannabisblüten und -extrakte und die Risiken einer längerfristigen Behandlung sind kaum untersucht.

Kopfschmerzen bei Kindern

Mehr als zwei Drittel der Schüler haben häufiger als zwei Tage in Monat Kopfschmerzen. Dieses Ergebnis einer Querschnittstudie mit 2 700 Befragten stellte die Kongresspräsidentin PD Dr. med. Gudrun Goßrau (Dresden) vor. Oft erfolge keine ärztliche Diagnose, sodass die Gefahr der Bagatellisierung bestehe. ­Dabei sind Migräne und Spannungskopfschmerzen die häufigsten eigenständigen Schmerzdiagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Im Fall von Migräne geht das mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung weiterer Schmerzen im Erwachsenenalter einher.

Ursachen für Kopfschmerzen im Jugendalter sind Stress und Leistungsdruck, zu viel Zeit vor dem Bildschirm und zu wenig Bewegung. Daher sollten Kinder und Jugendliche zu einem regelmäßigen ­Lebensrhythmus mit Sport und Entspannung, regelmäßigem Trinken und Verhaltenstraining angeregt werden. Akutmedikamente sollten nur ärztlich verordnet werden: beispielsweise Ibuprofen oder, ab 12 Jahren, auch Triptane, bei Migräne prophylaktisch Propranolol. Insgesamt müssten die Versorgungsstrukturen verbessert werden. Da die Kinderarzt­praxen überlastet sind, sollte die Behandlung in die Spezialambulanzen verlagert werden. Und es bedarf interdisziplinärer Konzepte, wie etwa dem Dresdner Kinderkopfschmerzprogramm.

Kopfschmerzen bei COVID-19

Kopfschmerz ist das erste Symptom bei COVID-19, das oft über das akute Stadium hinaus andauert. Studien zufolge persistierten die Kopfschmerzen bei jeweils rund 38 % der Betroffenen sechs Wochen bzw. drei Monate nach der Infektion. Das Paradoxon: „Je stärker der Kopfschmerz, desto besser die ­Prognose“, sagte Prof. Dr. med. Andres Straube (München), die Mortalität sei zweifach niedriger. Eine Verbesserung der Kopfschmerzen zeigte sich während des Lockdowns, als die Patienten weniger Stress und Rechtfertigungsdruck ausgesetzt waren.

Nach der Infektion zeigte sich bei 10 % der Patienten ein neu aufgetretener postviraler Kopfschmerz. ­Während beim akuten Schmerz neuropathische Prozesse ursächlich sind, scheint bei der chronischen Form der postviralen Kopfschmerzen das Inflammasom beteiligt zu sein. Als Teil der angeborenen ­Immunabwehr regt es die Freisetzung von Entzündungsbotenstoffen an. Ein Mechanismus, der möglicherweise nicht nur bei der Entstehung von lang anhaltenden Kopfschmerzen nach COVID-19 eine Rolle spielt, sondern auch bei der Chronifizierung von primären Kopfschmerzen wie Migräne.

Long COVID – Starker Schmerz

Bei einer Intensivbehandlung nach SARS-CoV-2-Infektion werden langfristig Schwäche und Schmerzen beobachtet, die an Muskeln und Gelenken auftreten oder polyneuropathieartig verlaufen. Diese Critical Illness Neuropathy ist aus der Intensivmedizin bekannt, erklärte Prof. Dr. med. Winfried Meißner (Jena), Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft. Dabei besteht ein Zusammenhang mit der Dauer der Be­atmung und Schwere der Erkrankung. Dass nach dem Intensiv-Aufenthalt jeder sechste COVID-Patient betroffen war, darunter auch Jüngere, zeigte eine Studie. Überhaupt verstärkte die Pandemie die ­psychosozialen Belastungen und auch das Schmerzempfinden. Auf der anderen Seite wurden die reduzierten täglichen Anforderungen positiv wahrgenommen. Die Kontaktbeschränkungen wirkten sich vor allem bei Personen mit neu aufgetretenen Schmerzen aus, die dadurch länger auf ihre „Schmerzdiagnose“ und den Behandlungsbeginn warten mussten.

Tumorschmerzen – Therapieziel dauerhafte Verträglichkeit

Schlaf ist ein wichtiger Lebensqualitätsparameter, insbesondere auch für Patienten mit Tumorschmerzen. Hydromorphon in der 24-Stunden-Galenik verhindert eine Katastrophisierung der Patienten durch End-of-dose Failure und weist die höchste Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Therapie auf.

Von den Patienten mit Tumorschmerzen haben 40 % Optimierungsbedarf bei der Therapie, so ­Dr. med. Johannes Horlemann (Kevelaer). Neben der Schmerzreduktion ist die Lebensqualität vorrangiges Behandlungsziel. Dieses ist im aktuellen „Brief Pain Inventory“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) so definiert und schließt auch die Schlafqualität mit ein. Gemäß der „Guidelines for the Management of Cancer Pain“ der WHO von 2019 muss das Stufenschema nicht mehr eingehalten werden, sondern bei Bedarf kann gleich in Stufe III mit Opioiden begonnen werden.

In der Praxisleitlinie Tumorschmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft (DSG), die aktuell revidiert wird, kommt der Diagnose eine wichtige Rolle zu, um nachfolgende Fehlbehandlungen zu vermeiden. Unterschieden werden die Ebenen akuter/chronischer Schmerz, das Schmerzerleben, nozizeptiver/neuropathischer sowie radikulärer/nicht radiku­lärer Schmerz. Ein wichtiger Punkt dabei ist die individualisierte Therapieauswahl mit Opioiden. Das ­bedeutet, die richtige Substanz in der richtigen Galenik einzusetzen und Anwendungsfehler, die ein Viertel der unerwünschten Wirkungen ausmachen, zu vermeiden. Bei einem Misserfolg sollte prozesshaft reevaluiert werden. Und bei der Opioidrotation sollten die Dosierungsäquivalenz und die Zugangswege beachtet werden.

Kein gestörter Nachtschlaf

Besonders bedeutsam im Thesenpapier der DSG ist die gemeinsame Therapieentscheidung. Mitunter steht dabei die Patientenzufriedenheit einer vollständigen Schmerzfreiheit gegenüber. Der ­Fokus liegt auf der Autonomie des Patienten, also vollständige Sebstbestimmtheit und Fürsorge zum Wohl der ­Patienten. Expertenkonsens besteht darüber, dass die Verträglichkeit Vorrang vor der Wirkstärke hat und somit auf die Qualität der Galenik zu achten ist. Real-World-Daten bietet das Praxisregister Schmerz von 2019, das u. a. 17 832 mit Tumorschmerzen listet. Von diesen wurden 94 % mit Opioiden (Morphin, Oxycodon, Hydromorphon) ­behandelt. Wie eine Analyse des Therapieverlaufs der 16 762 Patienten zeigte, betrug der First-Re­sponse-Erfolg für Hydromorphon in 24-Stunden-­Galenik (HAL) 66 % und für Hydromorphon 51 %. Für Letzteres betrug die End-of-dose Failure 20,9 %, im Gegensatz zu 7,4 % für HAL. Dieser Wert dürfte sich durch eine Abendgabe noch etwas verbessern, sagte Horlemann. Setzt man HAL ein, hält die Wirkung über die gesamte Schlafdauer an. Hydromorphon 24 Stunden Retard ist mit nur 8 % Eiweißbindung verträglich und auch bei Niereninsuffizienz geeignet. Zu beachten bleibt, dass es unter den lang wirksamen Opioiden erhebliche differenzialdiagnostische Unterschiede gibt, so die Praxisleitlinie Schmerz. Dies macht sich besonders in der End-of-dose Failure, beim Erstansprechen und im Nebenwirkungsprofil bemerkbar.

Firmensymposium „Schmerztherapie: Klinik vs. Praxis“ (Veranstalter: Aristo Pharma GmbH)

Migräneprophylaxe – Effekte auf Wohlbefinden und Produktivität

Bei der medikamentösen Migräneprophylaxe ist nicht allein die Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage ein relevantes Erfolgskriterium. Wichtig sind zudem Aspekte der Lebensqualität und der Produktivität, hieß es unter den Experten beim Deutschen Schmerzkongress 2021.

Es ist sinnvoll, nach mehr als nur nach der Anzahl der Kopfschmerztage zu schauen“, sagte Dr. med. Charlotte von Kageneck (Freiburg). Denn bei episodischer (EM) und chronischer Migräne (CM) seien die Alltagsaktivitäten eingeschränkt und die Attacken gehen mit emotionalen Belastungen einher. Auch die Arbeitsproduktivität sei beeinträchtigt, sodass vermehrt Arbeitsunfähigkeitstage anfallen.

Fragebögen heranziehen

Deshalb lohne es sich, mit Blick auf die medikamentöse Prophylaxe, Lebensqualität und Produktivität mit Fragebögen zu erheben, so Kageneck. Beispiele seien der Score MSQoL (Migraine-Specific Quality of Life Questionnaire) mit 14 Fragen in den Domänen „eingeschränkte Aktivitäten“, „verhinderte Aktivitäten“ und „emotionale Belastung“ sowie der WPAI:GH (Work Productivity and Activity Impairment Questionnaire: General Health) mit sechs Fragen zu Auswirkungen auf Produktivität und Arbeitsfähigkeit. Anhand dieser Erhebungsinstrumente konnten für den monoklonalen CGRP(Calcitonin Gene-Related Peptide)-Antikörper Fremanezumab günstige Auswirkungen auf Lebensqualität und Arbeitsproduktivität bei Erwachsenen sowohl mit episodischer als auch mit chronischer Migräne nachgewiesen werden. Fremanezumab wird monatlich (225 mg) oder vierteljährlich (675 mg) subkutan injiziert.

Studien zur Lebensqualität

Patienten mit episodischer Migräne, die auf eine prophylaktische Behandlung mit dem CGRP-Antikörper mit einer Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage um mindestens zwei Tage reagieren, können demnach mit deutlichen Verbesserungen der Lebensqualität rechnen – entsprechend den mit dem MSQoL v2.1 erhobenen Ergebnissen [1]. In einer anderen Untersuchung kam es bei Patienten mit chronischer Migräne in allen drei Domänen des MSQoL zu signifikanten Verbesserungen der Lebensqualität im Vergleich zur Placebogruppe [2]. Auch bei CM-Patienten mit Medikamentenübergebrauchs­kopfschmerzen war eine signifikante Erhöhung der Punktscores im Vergleich zu Placebo ermittelt worden [3]. Dies gilt ebenso für Patienten, die auf zwei bis vier prophylaktische Vortherapien unzureichend angesprochen hatten [4]. Erhebungen mithilfe des WPAI:GH ergaben zudem signifikante Verbesserungen der Arbeitsproduktivität [2,4].

„Migräne ist eine komplexe Erkrankung und sie braucht natürlich auch eine komplexe Therapie“, erläuterte Prof. Dr. med. Hartmut Göbel (Kiel). Er sprach sich für eine interdisziplinäre und multimodale Behandlung aus. Dies schließe die Notwendigkeit eines umfassenden Assessments der Patienten ebenso ein wie die Patientenedukation als zentraler Bestandteil der Schmerztherapie.

Silberstein SD et al., J Headache Pain 2021; 22: 2
Lipton RB et al., Neurology 2020; 95: e878–e888
Silberstein SD et al., J Headache Pain 2020; 21: 114
Spierings ELH et al., J Headache Pain 2021; 22: 26
Satellitensymposium „Mehr als nur Kopfschmerzen – Welche Rolle Wohlbefinden & Verhalten bei der Migräneprophylaxe spielen“ (Veranstalter: TEVA GmbH)

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