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Qualität der Arzneimittelversorgung

Neue Medikamente kosten immer mehr, tragen aber immer weniger zur Versorgung bei

1.12.2022

Der Arzneimittel-Kompass 2022 mit dem Schwerpunkt „Qualität der Arzneimittelversorgung“ zeigt, dass neue Medikamente immer mehr kosten, aber davon nicht mehr Menschen profitieren.

„Es wird immer mehr Geld für eine immer geringere Versorgungsreichweite ausgegeben“, sagt Helmut Schröder (Berlin), stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und Mitherausgeber des Arzneimittel-Kompasses. Weit mehr als die Hälfte der älteren Patienten ist von Polypharmazie und den damit einhergehenden Risiken betroffen. Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin des Bereichs Versorgung beim AOK-Bundesverband, fordert weitergehende Reformen im Arzneimittelmarkt, um die Solidargemeinschaft von stetig steigenden Preisen zu entlasten und die Qualität der Versorgung zu verbessern (> Gesundheitssystem).

Die Nettoausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel sind im Jahr 2021 um 8,8 % auf 50,2 Milliarden Euro gestiegen. Wie schon in den Vorjahren fielen auch im Jahr 2021 im Arzneimittelmarkt besonders folgende Bereiche durch überdurchschnittliche Umsatzsteigerungen auf: patentgeschützte Arzneimittel (+14,4 %), Orphan Drugs (+24,7 %) und biologische Arzneimittel (+12,0 %). „Diese drei Marktsegmente zeichnen sich dadurch aus, dass sehr viel Geld für wenige Medikamente aufgebracht wird, von denen letztendlich auch wenige Menschen profitieren“, so Schröder. Im vergangenen Jahr wurde allein mit patentgeschützten Arzneimitteln im GKV-Bereich ein Umsatz von 27,5 Milliarden Euro erwirtschaftet. Damit wurde auch 2021 erneut mehr als jeder zweite Euro der Arzneimittelkosten in diesem Bereich ausgegeben (52,5 %). Gemessen an verordneten Tagesdosen entfielen jedoch nur 6,5 % der Versorgung auf patentgeschützte Medikamente. Seit nunmehr zehn Jahren tragen damit insbesondere neue Arzneimittel zum Umsatzwachstum, aber gleichzeitig immer weniger zur Versorgung bei.

Der Arzneimittel-Kompass 2022 zeigt auch: Neue Arzneimittel sind nicht per se innovativ: Bei 61,5 % der Patientengruppen hat sich im AMNOG-Bewertungsverfahren kein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie gezeigt. Auch kann bei noch nicht einmal 40 % der untersuchten Gruppen eine Verbesserung der Behandlungsqualität erwartet werden. In den letzten zehn Jahren hat die GKV 16,6 Milliarden Euro für diese Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen ausgegeben. Allein im Jahr 2021 belief sich die Summe auf 3,8 Milliarden Euro. „Damit führen eine Vielzahl von aufwendigen Forschungsvorhaben der pharmazeutischen Industrie bis zur Einführung eines neuen Arzneimittels, nicht zu einer verbesserten Versorgung“, moniert Schröder. Die mangelnde Balance zwischen dem Nutzen eines Arzneimittels und den hohen Preisen sowie den sich daraus ergebenden Einnahmen und Gewinnen verschärfe sich seit Jahren durch immer neue Preisrekorde. „Lösungsansätze zur Ermittlung von fairen Preisen, wie sie in der Wissenschaft diskutiert werden, könnten das Gleichgewicht wiederherstellen“, so Schröder weiter.

Diese Entwicklung ist auch bei den Medikamenten zur Behandlung seltener Erkrankungen, den Orphan Drugs, festzustellen. Immerhin 13 % aller Ausgaben entfallen auf Orphan Drugs, mit einem marginalen Verordnungsanteil nach Tagesdosen von gerade einmal 0,07 %. So kostet eine tägliche Behandlung mit einem solchen Arzneimittel durchschnittlich 213,53 Euro, die mit einem Nicht-Orphan-Arzneimittel hingegen nur 0,94 Cent. Gleichzeitig war bei über zwei Drittel der Patientengruppen, die diese Medikamente verordnet bekamen, bisher kein oder nur ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen festzustellen. „Deshalb ist die Zeit reif, die Ausnahmeregelungen für Orphan Drugs endlich abzuschaffen und die Versorgungsqualität damit zu verbessern“, fordert Richard.

Die Qualität der Arzneimittelversorgung beleuchtet der Arzneimittel-Kompass unter anderem am Beispiel älterer Patienten. „Viele ältere Menschen nehmen aufgrund verschiedenster Erkrankungen und Beschwerden mehrere Arzneimittel täglich ein. Bei fünf oder mehr verschiedenen Medikamenten pro Tag spricht man von Polypharmazie. Diese birgt zahlreiche Risiken“, so Prof. Dr. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke, Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompass 2022. Lag der Verordnungsanteil für ältere Patienten ab 65 Jahren im Jahr 2012 im Mittel noch bei 3,9 verschiedenen Medikamenten pro Tag, so waren es im Jahr 2021 im Mittel bereits 4,4. Weit mehr als die Hälfte der älteren Patientinnen ist von Polypharmazie betroffen. Nach der neuen PRISCUS-2.0-Liste (www.priscus2-0.de) erhielt im Jahr 2021 knapp die Hälfte (49,5 %) der insgesamt 16,4 Millionen älteren GKV-Versicherten mindestens ein potenziell unangemessenes Medikament (PIM) verordnet. „Hinzu kommt, dass die den Leitlinien zugrunde liegenden Studien multimorbide und gebrechliche Patientinnen meist ausschließen, sodass auch die Evidenz für den Nutzen in dieser Population nicht gesichert ist“, so Thürmann. „Wir haben kein Erkenntnisproblem, welche Arzneimittel bei älteren Menschen potenziell unangemessen sind, sondern ein Umsetzungsproblem. Die PRISCUS-2.0-Liste, die demnächst von unserem Institut kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, stellt den Transfer in die Praxis sicher“, so Schröder.

1) Pressemitteilung „Arzneimittel-Kompass 2022 zeigt Fehlentwicklungen auf und gibt Impulse für die Verbesserung der Versorgungsqualität“. AOK-Bundesverband & Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin, 17.11.2022. Verfügbar unter: https://www.aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2022/index_26062.html
2) Helmut Schröder, Petra Thürmann, Carsten Telschow, Melanie Schröder, Reinhard Busse. Arzneimittel-Kompass 2022 – Qualität der Arzneimittelversorgung. Berlin: Springer; 2022; doi: 10.1007/978-3-662-66041-6

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