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Gynäkologie

Die Psychologie der Kontrazeption

Junge Frauen sehnen sich nach einer heilen Welt

Interview mit Dipl.-Psych. Stefan Zettl

28.8.2023

Warum lehnen immer mehr junge Frauen Hormone ab? Warum wird Verantwortung für die Kontrazeption von Männern nur mit Widerwillen akzeptiert? Und warum sollten Frauenärzte ihre Patientinnen im Wartezimmer abholen? Der Psychologe Stefan Zettl gibt Antworten auf viele Fragen der Kontrazeptionsberatung.

Herr Zettl, Sie beschäftigen sich mit Psychosexualität und auch mit Kontrazeption. Wie sehen die aktuellen Verordnungszahlen denn aus?

Die Skepsis gegenüber der Pille hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Insbesondere bei jüngeren Frauen zeigen sich deutliche Vorbehalte. So belegen Zahlen beispielsweise für Rheinland-Pfalz, dass im Jahr 2020 rund 20 % ­weniger bei der TK versicherte junge Frauen zwischen 14 und 19 Jahren die Antibabypille benutzten als noch im Jahr 2015. Danach entschieden sich für diese hormonelle Verhütungsmethode nur noch etwa 37 % der unter 20-Jährigen. In der Alters­gruppe der 18- und 19-Jährigen nahmen im Jahr 2015 noch drei von vier Frauen (ca. 74 %) die ­Pille ein, im Jahr 2020 waren es nur noch 58 %.

Welche Rückmeldungen zur Kontrazeption und zur Kontrazeptions­beratung erhalten Sie von Patientinnen?

Vielfach wird der Zeitdruck beklagt, unter dem ­Ärztinnen und Ärzte stehen und der von den Frauen deutlich wahrgenommen wird. Es bleibt kaum Raum für ausführliche Gespräche, mögliche Bedenken oder Ängste werden aus ihrer Sicht oft nicht ausreichend ernst genommen. Das gilt insbesondere für die Frage der möglichen Nebenwirkungen der Pilleneinnahme, die in den öffentlichen Medien immer wieder beschrieben werden.

Wie hoch schätzen Sie den Einfluss der Männer auf die Entscheidung zur Kontrazeption ein?

Eigentlich besteht ja bei fachgerechter Benutzung von Kondomen oder der Unterbindung der Samenleiter nach abgeschlossener Familienplanung auch für den Mann die Möglichkeit der Verantwortung zur Kontrazeption. Von vielen Männern wird jedoch das Kondom nur mit Widerwillen akzeptiert oder sogar verweigert, weil es angeblich die Empfin­dungen beeinträchtigt. Und die Unterbindung der ­Samenleiter wird von vielen trotz abgeschlossener Familienplanung abgelehnt, weil die Fähigkeit, ein Kind zu zeugen, einen Kern der männlichen Identität darstellt. Daher ist in vielen Partnerschaften dann doch die Frau für die Kontrazeption verantwortlich – vielleicht auch deshalb, weil sie sich ständig wiederholenden ermüdenden Diskussionen dadurch entziehen will.

Sie sehen unter anderem die Angst vor Hormonen für den Trend verantwortlich. Was sind da die psycho­logischen Ursachen?

Wir leben in einer Welt, die gerade durch ständige beunruhigende Katastrophenmeldungen der öffentlichen Medien von Geschehnissen wie Kriegen auf allen Kontinenten, Konflikte um Wasser und Nahrungsmittel, zunehmende Migration oder der Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimawandel gekennzeichnet ist. Dadurch entsteht meines Erachtens eine regressive Sehnsucht nach einer „heilen Welt“, in der alles „in Ordnung“ erscheint. Das zeigt sich nicht nur in Phänomenen wie dem Trend eines Zurück zur Natur, sondern auch einem kritischen Bewusstsein gegenüber synthetischen Medikamenten und der Suche nach „alternativen Heilverfahren“.

Welche Rolle spielen dabei das Internet und die sozialen Medien?

Die kritische Berichterstattung in den sozialen ­Medien – insbesondere die Meinungsäußerungen von Influencerinnen im Internet – spielt eine zunehmende Rolle. Über das Internet erreichen sie mit ihren Meinungen Millionen von Zuhörerinnen und Zuhörern. Die dabei geäußerten Ansichten zum ­Thema Kontrazeption sind dabei in vielen ­Fällen in keiner Weise wissenschaftlich fundiert. Plötzlich wird die Pille neben den nachgewiesenen ­unerwünschten Nebenwirkungen auch für eine ­falsche Partnerwahl, emotionale Verblendung, ­Beziehungserfahrungen, Adipositas, psychosomatische Beschwerden, Nervosität, Depression, verringertes Selbstbewusstsein, Angsterkrankungen, Selbstunsicherheit usw. verantwortlich gemacht. Und das führt natürlich zu einer Aversion gegenüber der Einnahme der Pille.

Und diese durch Diskussionen erzeugte Ängstlichkeit führt dazu, dass diese Frauen einfach alles „Synthetische“ ablehnen?

Liegt ein diffuses Gefühl von Beunruhigung oder Bedrohung vor, hilft eine Spaltung in „gut“ und „böse“. Die Dinge werden eindeutiger und man entwickelt das Gefühl, dadurch mehr Kontrolle zu ­haben. Das erklärt auch das zum Teil vorhandene Misstrauen gegenüber der Pharmaindustrie, die scheinbar nur das eigene finanzielle Interesse und die Gewinnmaximierung im Auge hat und sich nicht dem Wohlergehen der Menschen verpflichtet fühlt, die ihre Medikamente einnehmen.

Welchen Einfluss hat der Nocebo-Effekt?

Er hat einen ebenso bedeutsamen Einfluss wie der Placebo-Effekt. Alleine die für Ärzte juristische Pflicht zur vollständigen Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten führen ­häufig dazu, dass ein Misstrauen gegenüber den verordneten Substanzen entsteht und sich dann in einer Non-Adhärenz zeigt. Das Gleiche gilt für die schriftlichen Begleitinformationen in den Medikamentenpackungen, die auch seltenste Nebenwirkungen aufführen und damit möglicherweise mehr Angst induzieren als positive Effekte zu erzeugen. Hier haben eindeutig juristische Überlegungen die Entwicklung einer vertrauensvollen Arzt-Patientinnen-Beziehung erschwert.

Was können Frauenärzte tun, um ihre Patientinnen umfassend und objektiv zu beraten?

Ich glaube, dass angesichts der Veränderungen unseres Gesundheitswesens eine von ihnen geforderte umfassende und objektive Beratung kaum noch realisierbar ist. Die zunehmende Ökonomisierung der Medizin, eine alternde Gesellschaft und damit verbundene häufig multimorbid erkrankte Patientinnen und Patienten sowie der sich demogra­fisch immer deutlicher abzeichnende ­Ärztemangel lässt das meines Erachtens nur noch in Ausnahmefällen zu. Dazu wird die sprechende Medizin zwar immer wieder propagiert, jedoch von der Politik und den Krankenkassen nur unzureichend finanziell honoriert. Eine Kollegin brachte das mir gegenüber mit ihrer Bemerkung auf den Punkt: „Beziehungsmedizin ist ein Insolvenzprojekt!“

Was schafft Vertrauen in der Arzt-Patientinnen-Beziehung?

Alles, was der Patientin den Eindruck des Unpersön­lichen und Geschäftsmäßigen vermittelt, sollte nach Möglichkeit unterlassen werden. Wenn sie den Eindruck gewinnt, dass die Behandlung überwiegend von institutionellen oder wirtschaftlichen Erwartungen her bestimmt ist, wird sie der Ärztin bzw. dem Arzt schon deshalb das nötige Vertrauen entziehen und möglicherweise auch relevante ­Informationen für die beabsichtigte Medikation nicht äußern.

Welche praktischen Tipps können Sie den Kollegen in der Frauenarzt­praxis mitgeben?

Ich habe keinen Zweifel daran, dass alle in der ­Klinik oder Praxis tätigen Kolleginnen und Kollegen versuchen, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Patientinnen herzustellen. Leider lassen es die Rahmenbedingungen oft nicht zu. Es sind aber manchmal Kleinigkeiten, die einen wesentlich größeren positiven Einfluss nehmen können, als man ahnt. Das gilt beispielsweise schon alleine für die Begrüßung: Es macht einen Unterschied, ob man über eine Sprechanlage oder die MFA aufgerufen wird oder persönlich von seiner Ärztin bzw. seinem Arzt persönlich begrüßt und abgeholt wird. Man achte auf die Sitzordnung, dass zum Beispiel sich Behandler und Patientin gegenübersitzen können, ohne dass der Schreibtisch mit dem Computer wie eine „Distanzwaffe“ erlebt wird. Und bei angedeuteten oder ausgesprochenen Bedenken bezüglich eines Medikaments sollte das zuallererst validiert werden, d. h., mit einem Satz wie „Ich kann verstehen, dass Ihnen das Sorgen bereitet“ kommentiert werden, bevor mögliche Gegenargumente aufgezählt werden. Persönlichkeit und Beziehung des Arztes bzw. der Patientin spielen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle wie ihre bzw. seine fachliche Kompetenz!

Herr Zettl, vielen Dank für dieses spannende Gespräch.

Im Interview

Dipl.-Psych. Stefan Zettl
Experte für Psychotherapie, Psychoonkologie und Sexualtherapie

s.zettl@t-online.de

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