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Allgemeinmedizin

Warum abnehmen so schwer ist

Adipositastherapie - der Hunger muss weg!

Elke Engels

29.3.2023

Wenig bekannt, aber wahr: Adipositas ist eine chronische Erkrankung und muss interdisziplinär und langfristig therapiert werden. Warum das so ist und wie die Patienten für die entsprechenden Maßnahmen motiviert werden können, erläutert der Adipositasexperte Dr. med. Arya M. Sharma. Es fängt schon bei der Ansprache an.

Wie sollten Ärzte adipöse Patienten in ihrer Praxis ansprechen?

Starkes Übergewicht ist ein empfindliches Thema. Viele Patienten leiden sehr darunter und haben meistens schon viele Abnehmversuche erfolglos hinter sich gebracht. Als Arzt braucht man ein bisschen Fingerspitzengefühl, um den richtigen Zeitpunkt für ein solches Gespräch zu finden. Wer beispielsweise mit Ohrenschmerzen zum Arzt geht, lässt sich auf ein Gespräch zum Gewichtsmanagement nur schwerlich ein.

Wie steigt man ins Gespräch ein?

Der Arzt sollte nicht anklagend fragen, sondern eher neutral: „Machen Sie sich Sorgen über Ihr Gewicht? Wollen wir das Thema mal besprechen?“ Wenn der Patient ablehnt, sollte man ihm anbieten, dass ein solches Gespräch auch gerne zu einem späteren Zeitpunkt geführt werden kann.

Wenn der Patient für das Gespräch bereit ist, was gehört in die Erstberatung?

Beim ersten Gespräch sollte man auf die Sorgen der Patienten eingehen und ihnen die Schuldgefühle nehmen. Adipositas ist eine chronische Krankheit. Wenn das verstanden wurde, erst dann können in Folgegesprächen Lösungen gemeinsam erarbeitet werden. Dieser Aspekt ist wichtig, denn mit einer Krankheit kann man als Betroffener besser umgehen als mit dem vermeintlich eigenen Versagen.  

Wo konkret liegt die Schwierigkeit des Problems, Übergewicht abzubauen?

Da kommen viele Faktoren zusammen, etwa die genetische Veranlagung oder die Lebensumstände. Viele Menschen neigen aufgrund ihrer Gene beispielsweise dazu, im Laufe ihres Lebens an Gewicht zuzunehmen. Andere wiederum essen deutlich mehr und halten ihr Gewicht.

Welche Lebensumstände begünstigen Übergewicht?

Stress, Schichtarbeit, Sorgen oder chronische Erkrankungen wie Depressionen können Übergewicht triggern. Ein gutes Beispiel sind auch die „COVID-Pfunde“. Bei entsprechender Veranlagung und unter Angstgefühlen vor der „unbekannten“ Krankheit ­haben viele Menschen zugenommen. Ich habe in meiner Praxis auch Leistungssportler erlebt, die sich immer gesund ernährt haben. Plötzlich haben sich die Lebensumstände geändert (Leistungssport war nicht mehr möglich) und schon nahmen sie zu.

Wichtig ist, dass der Patient versteht: eine Gewichtszunahme kann bei entsprechender Veranlagung ­jedem passieren.

Und wie geht man dann vor?

Die Lösung ist nicht einfach. Denn es gibt noch ein anderes Problem: Wenn der Körper erst einmal an Gewicht zugenommen hat, dann „verteidigt“ er sozusagen sein neues Gewicht. Dahinter steckt eine ganz komplexe Biologie, die eigentlich von der ­Evolution her so gedacht ist, dass wir vor einer ­Hungersnot geschützt werden.

Wie gut erforscht ist dieses Problem?

Wir wissen von der Wissenschaft, dass ebenso wie die Körpertemperatur oder der Blutdruck auch das Gewicht zentral reguliert wird. Es gibt einen Sollwert, der im Hypothalamus bei Gewichtszunahme nach oben reguliert wird. Dabei spielt es keine ­Rolle, ob die Gewichtszunahme mit Gesundheitsrisiken verbunden ist oder nicht. Es geht bei diesen Regulationsmechanismen nur darum, das neu ­erworbene Gewicht zu halten.

Deshalb fällt das Abnehmen so schwer?

Ja, man kann das System zwar teilweise überlisten, aber nicht kontinuierlich. Wer also eine Diät und mehr Sport macht, kann beispielsweise in den ­ersten vier Wochen vier Kilogramm, abnehmen, im Folgemonat kann das deutlich reduziert sein.

Wie kann man den Kreislauf ­„Über­gewicht halten“ unterbrechen?

Leider gar nicht, weil eine Sollwertverstellung nicht möglich ist. Deshalb sind viele Diäten frustrierend. Man kann die Kalorienzufuhr zwar drastisch ­drosseln, aber dann reduziert der Körper seinen Energie­verbrauch und die Abnehmerfolge sind deutlich geringer als geplant oder gar errechnet. Dies umso mehr, wenn man eine entsprechende genetische Disposition hat. Die individuelle Biologie ­beeinflusst zudem auch, welche Diät anschlägt und welche nicht.

Dann gibt es keine „beste“ Diät?

Jeder Mensch reagiert auf bestimmte Ernährungsweisen anders. Low Carb oder eine Keto-Diät funktioniert nicht bei jedem. Man sollte bei der Auswahl aber insbesondere gesundheitliche Aspekte berücksichtigen. An Vitaminen, Mineralstoffen oder Eiweiß sollte es nicht mangeln.

Wie können stark übergewichtige Menschen abnehmen, wenn der Regelkreis nicht beeinflusst werden kann?

Ein Weg ist die Operation. Durch chirurgische ­Eingriffe können nämlich die Signale an den Hypothalamus verändert werden. Die Patienten haben viel weniger Hunger oder Appetit und werden schneller satt.

Wie kommt es, dass die Signale durch eine Magenverkleinerung verändert werden?

Ein Teil des Regulationssystems „Gewicht halten“ sitzt im Magen-Darm-Trakt. Von hier aus werden ­Signale wie das Hungerhormon Ghrelin mit der ­Botschaft „Ich brauche Nahrung“ ans Gehirn gesendet, das dann reagiert. Beim Schlauchmagen entfernt man beispiels­weise den Fundus, sodass kein Hungersignal mehr gesendet wird. Beim Beipass kommt es dagegen zu einer höheren Freisetzung von Sättigungssignalen wie Glucagon-like ­peptide (GLP-1). Die Leute werden dann sehr schnell satt.

Kommt es dann zu Nährstoffmangel?

Ja und nein. Es gilt, spezielle Regeln zu beachten. Beispielsweise Eiweiß als erstes zu essen, damit ­keine Defizite entstehen. Hinzu kommt, dass bestimmte Vitamine und Mineralstoffe regelmäßig ­zugeführt werden.

GLP-1 kann ja auch systemisch verabreicht werden. Entsprechen die Effekte einer Operation?

Ja, es kann gespritzt werden mit einem Pen. Die ­Wirkung ist vergleichbar mit einem operativen ­Eingriff: schnelle Sättigung, weniger Hunger. Die GLP-1-Analoga (Applikation 24 Stunden bis hin zu einer Woche) wirken deutlich länger als das „natür­liche“ im Magen freigesetzte GLP-1 (30 Minuten). Sema­glutid hat beispielsweise eine so lange Halbwertszeit, dass es nur einmal pro Woche gespritzt werden muss. ­Allerdings müssen GLP-1-Analoga lebenslänglich ­eingenommen werden, wenn man diesen Effekt beibehalten möchte. Das gilt übrigens auch für ­Diäten. Wird sie abgebrochen, steigt das Gewicht wieder.

Wie sicher sind GLP-1-Analoga?

GLP-1-Analoga werden seit ungefähr ­­15 Jahren bei Diabetes eingesetzt und sind sehr gut erforscht. Studien zeigen nicht nur in Bezug auf Blutzucker oder Gewichtsregulation, sondern auch auf Verminderung des Schlaganfalls- und Herzinfarktrisikos gute Effekte. Die Verträglichkeit ist gut, auch bei einer Langzeittherapie. Allerdings sollte die ­Therapie einschleichend, also zunächst mit einer niedrigeren Dosierung begonnen und dann kann langsam hochtitriert werden. Sonst kann es anfangs zu Übelkeit und Erbrechen kommen.

Wie werden Ärzte für das Thema Adipositas sensibilisiert?

Es ist ein Manko, dass das Thema im Studium noch nicht aufgegriffen wurde. Generell besteht Aufklärungsbedarf, denn zunehmend mehr Menschen sind betroffen. Wenn Ärzte wissen, dass es sich um eine chronische Erkrankung handelt und das Problem nicht lösbar ist durch eine Lebensstilumstellung und Sport, hätten wir schon viel erreicht.

Der Experte

Dr. med. Arya M. Sharma
Emeritierter Professor für Medizin und ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Adipositasforschung und -management der University of Alberta, Edmonton, Kanada

Dr. med. Arya M. Sharma zählt zu den führenden Stimmen in der Adipositas-Wissenschaft und -Medizin. Er ist Autor und Mitautor von mehr als 500 wissenschaftlichen Artikeln und hat zahlreiche Vorträge über die Ätiologie und das Management von Adipositas gehalten.

Er hat mehrere angesehene internationale und nationale Aus­zeichnungen erhalten, darunter den Master of Obesity Medicine Award 2019, die höchste Auszeichnung des American Board of Obesity Medicine, die Scopinaro Lecture 2014, die höchste Anerkennung für einen Nicht-Chirurgen durch die International Federation of Surgery for Obesity, die W. L. Asher and Peter Lindner Lecture 2012 der American Society of Bariatric Physicians sowie eine Killam Annual Professorship (2017) und eine McLaughlin Gallie Visiting Professorship des Royal College of Physicians and Surgeons (2014).

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