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Gynäkologie

Reproduktionsmedizin & Co

Innovation in der Frauenheilkunde und gesellschaftlicher Wandel

Prof. Dr. Dr. med. habil. Wolfgang Würfel

20.4.2023

Die Frauenheilkunde nimmt innerhalb der Medizin eine besondere Rolle ein. Denn als vergleichsweise kleines Fach kommt ihr allein schon durch die Beschäftigung mit Fertilität und Schwangerschaft eine immense gesellschaftliche Bedeutung zu. Diese Bedeutung wird in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen.

Der letzte Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) im Oktober 2022 in München war mit rund 5 000 Teilnehmern aus dem In- und Ausland, und zahlreichen „on demand“-Zuschaltungen auch im Vergleich mit den „größeren“ Fächern eher ein Großereignis.

Diese Tatsache ist den wissenschaftlichen, aber auch soziokulturellen Anforderungen und Inhalten geschuldet, die zunehmend die Frauenheilkunde bestimmen oder an sie herangetragen werden. Und so war es kein Zufall, dass es mit Prof. Dr. med. Marion Kiechle (München) erstmals nicht nur eine einzige Kongresspräsidentin gab. Die Co-Präsidentschaft übernahmen die beiden anderen „Säulen“ der Frauenheilkunde, nämlich die „Pränatal- und Geburtsmedizin“ (Prof. Dr. med. Stephanie Wallwiener, Heidelberg) und die „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin“. Auch wenn diese drei „Säulen“ seit längerer Zeit anerkannte Schwerpunkte unseres Faches sind, bilden sie die Frauenheilkunde in ihrer Gesamtheit natürlich nicht vollständig ab: weitere Beispiele sind die Urogynäkologie, die Kinder- und Jugendgynäkologie, die Psychosomatik – um nur einige zu nennen.

Die Erhaltung der Fertilität ist mittlerweile ein eigener Zweig in der Reprodktionsmedizin

So „klein“ ist unser Fach also schon lange nicht mehr. Hier besteht und bestand übrigens schon immer ein struktureller Unterschied insbesondere zum angloamerikanischen Kulturraum, wo etwa die Mamma und die Sonografie – so wie wir sie kennen und praktizieren – nicht genuin zu unserem Fach gehören.

Doch die zunehmende Bedeutung unseres Faches wird nicht nur durch strukturelle Unterschiede ­bestimmt. Noch bedeutender sind die wissenschaftlichen Inhalte und Innovationen sowie – in zunehmendem Maße – die gesellschaftlichen Anforderungen, die an uns herangetragen werden.

Mammakarzinom: Prototyp der onkologischen Versorgung

In der Onkologie hat sich die gynäkologische Onkologie zu einer Entität mit sehr hohen Therapiestandards entwickelt; exemplarisch seien Diagnostik und therapeutisches Management des Mammakarzinoms genannt. Hier ist die vielfach diskutierte „personalisierte Medizin“ schon sehr weit fortgeschritten – eigentlich nur noch vergleichbar mit der Hämatoonkologie. Die enge Verzahnung von üblichen Therapiestrategien wie Operation und Chemotherapie mit der unserem Fach so eigenen Endokrinologie hat diese Entwicklung befeuert, eine Entwicklung, die schon seit längerer Zeit durch die Anwendung immunologischer Therapiestrategien, v. a. auf Antikörperbasis, flankiert wird.

Doch damit nicht genug. Gerade beim Mammakarzinom war die gynäkologische Onkologie Vorreiter einerseits in dem Verständnis, dass es sich bei Karzinomen schon sehr früh um systemische Erkrankungen handelt (vgl. neoadjuvante Chemotherapie) und andererseits in der Minimierung operativer Eingriffe (vgl. Tumorektomie mit Sentinel-Lymphknoten). Schon sehr früh entwickelte man eine Sensibilität für die Organerhaltung („brusterhaltend“) und was mir sehr wichtig ist: Die Erhaltung der Fertilität ist unter dem Begriff „Fertiprotektion“ mittlerweile ein eigener Zweig der Reproduktionsmedizin.

Mittlerweile hat auch die immer wichtiger werdende Genetik ihren festen Platz. Und das nicht nur in der Diagnostik, sondern auch in der klinischen Praxis, wie etwa die Untersuchungen auf BRCA1- und BRCA2-Mutationen und die klinischen Konsequenzen bzw. deren therapeutische Umsetzung. Auch die Einteilung des Endometriumkarzinoms folgt zunehmend einer molekulargenetischen Klassifikation.

In all diesen Bereichen ist die gynäkologische ­Onkologie an der Spitze. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass in der gynäkologischen ­Onkologie mit der HPV-Impfung eine erste, malignom-präventive Vakzination eingeführt wurde – eine Innovation, die zu Recht mit einem Nobelpreis honoriert wurde.

Wollte man an dieser Stelle alle Innovationen nennen, es würde diese Darstellung sprengen. Festzuhalten ist aber auf alle Fälle, dass die onkologischen Standards der Frauenheilkunde sehr hoch sind, weshalb es nicht überrascht, dass führende Onkologinnen in interdisziplinären wissenschaftlichen Gesellschaften, auch international, in Vorstandspositionen vertreten sind.

Pränatalmedizin zwischen Wissenschaft und Ethik

Nicht unähnlich ist es in der Pränatal- und Geburtsmedizin, wobei es gerade die Pränatalmedizin war und ist, die neue Türen geöffnet hat – durchaus auch mit gesellschaftlicher Relevanz. Sowohl die anatomisch-morphologische wie auch die genetische Diagnostik nehmen einen immer höher werdenden Stellenwert ein, gerade im Hinblick auf die soziokulturelle Selbstwahrnehmung unserer Gesellschaft. Fast schon „klassisch“ sind die immer wieder aufflackernden Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Schwangerschaftsabbruch: doch das ist hier nicht gemeint.

Gemeint sind neue diagnostische Methoden, um frühzeitig Schwangerschaftskomplikationen zu erkennen und zu vermeiden, die nicht invasive Pränataldiagnostik (NIPD), die schlagartig unser Verständnis um den Mikrochimärismus (MC) vertieft hat – also die Zirkulation embryofetaler Zellen bzw. deren DNA im maternalen Organismus und deren immunologische Grundlagen – und ganz besonders die intrauterine Chirurgie. Deren operatives Spektrum und Expertise werden zunehmend expandieren, wodurch unser Fach weiter auf neues Terrain vorstoßen wird, auf dem auch ethische Diskussionen vorprogrammiert sein dürften – ein Umstand, der unserem Fach v. a. aus der Reproduktionsmedizin bekannt ist.

Reproduktionsmedizin und gesellschaftlicher Wandel

Schon mit der Geburt von Louise Brown im Jahre 1978 begannen die ersten gesellschaftlichen und ethischen Diskussionen und Kontroversen. Und so ist es bis heute geblieben. Es gibt in der Medizin kein Teilgebiet, das so häufig für ethische und gesellschaftliche Debatten gesorgt hat wie die „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin“, die kleinste der drei Säulen und, historisch betrachtet, die jüngste. Hier sei beispielhaft nur an das politische Ringen um eine gesetzliche Verankerung der Präimplantationsdiagnostik (PID) erinnert, also der genetischen Untersuchung an Präimplantationsembryonen. Auch wenn die PID längst in der Routine angekommen ist und sich die immer wieder gewünschte Zentralisation de facto etabliert hat (85–90 % aller PID-Anträge in Deutschland laufen über die Bayerische Ethikkommission) sollte nicht vergessen werden, dass es letztlich ein mutiger Fachkollege war, der durch eine Selbstanzeige (!) den damaligen Stein ins Rollen brachte. Das ist sicher ein Beleg dafür, welche politische Dynamik diesem kleinen Teilgebiet und seinen Exponenten zu eigen ist.

So klein ist dieses Teilgebiet mit der Fülle dort angesiedelten Fragestellungen freilich schon längst nicht mehr. War die In-vitro-Fertilisation (IVF) in ihren Anfängen das belächelte „Hobby“ von engagierten Wissenschaftlern, so stehen Fragen der Fertilität (Verhütung mit inbegriffen) mittlerweile auf Platz 2 in der täglichen gynäkologischen Praxis. Und fraglos ist die unterstützte Realisation des Kinderwunsches, also die Reproduktionsmedizin, längst aus der Tabuzone herausgetreten und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Und wie in keinem anderen Teilgebiet ist es nun der Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen und Normen (und weniger die Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten), der zunehmend bestimmend für die zukünftige Entwicklung wird und damit zu einer weiteren Mehrung der soziokulturellen wie auch politischen Bedeutung dieses Schwerpunktes führen dürfte. Mit der Einführung der „Ehe für alle“ und deren Implementierung im Grundgesetz, also der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare, hat der Deutsche Bundestag eine weitreichende Entscheidung getroffen, deren Tragweite den meisten Abgeordneten vermutlich nicht ganz bewusst war. Denn Ehe und die damit verbundene Familie (also Familiengründung) stehen nun unter dem Schutz des Grundgesetzes.

Eine solche Familiengründung ist aber für gleichgeschlechtliche männliche Ehepaare nur mit einer ­Leihmutterschaft realisierbar. Durchaus folgerichtig ­finden sich hierzu im Ampel-Koalitionsvertrag Überlegungen, die Leihmutterschaft innerhalb eines gewissen Rahmens zu legalisieren. Auch wenn über die Umsetzung letztendlich wahrscheinlich wieder Gerichte entscheiden werden, bleibt festzuhalten: der Impuls für entscheidende Veränderungen und Ausweitungen unseres Faches kommt aus der Politik und den sie tragenden gesellschaftlichen Gruppen, weniger aus der Medizin selbst.

Hier ist auch ein anderer Bereich zu nennen: Bekanntermaßen hat sich das Alter der Erstgebärenden in der Nachkriegszeit erheblich „nach hinten“ verschoben. Um auch in einem höheren Lebensalter – z. B. jenseits der 45 – noch eine Familie gründen zu können, hat sich „Social Freezing“, also die Kryokonservierung von Eizellen in einem niedrigeren Lebensalter, rasant verbreitet. Eng im Zusammenhang damit steht die Eizellspende. Sie ist derzeit in Deutschland – anders als die Embryospende (!) – strafrechtlich verboten. Doch auch hier ist eine Legalisierung im Koalitionsvertrag vorgesehen. Und wiederum wäre es dann vor allem der gesellschaftliche Wandel, der die Reproduktionsmedizin und damit das gesamte Fach um eine weitere Facette erweitern würde.

Der gesellschaftliche Wandel erweitert die Reproduktionsmedizin u neue Facetten.

Auch zunehmend im gesellschaftlichen Fokus ist die Transgendermedizin und damit ein weiterer Bereich, der geänderte gesellschaftliche Anschauungen und Normen widerspiegelt. Gesetzliche Hürden wurden mittlerweile abgebaut, zur Diskussion stehen weitere Liberalisierungen. Und die Zahl der Geschlechtsangleichungen nimmt zu. Der erste, entscheidende somatische Schritt ist die phänotypische Angleichung an das gewünschte Geschlecht, entweder durch ablative und/oder durch supportive hormonelle Therapiemaßnahmen. Solche Behandlungen sind schon heute bevorzugt bei gynäkologischen Endokrinologen angesiedelt. Und da der Angleichung des Phänotyps nicht zwangsläufig eine geschlechtsangleichende Operation folgt (diese Eingriffe sollen eher rückläufig sein), ergeben sich auch spezifische Anforderungen an die Reproduktionsmedizin. Das mag man sehen wie man will, Stichwort: „Der schwangere Mann“.

Tatsache ist: es handelt sich um legale Implementierungen des soziokulturellen Wandels, die der „dritten Säule“ der Gynäkologie weiter Gewicht verleihen werden.

Ganz fraglos unterliegt die Frauenheilkunde also einer erheblichen Metamorphose. Die Entwicklung führt hin zu einer deutlich ausgeprägteren funktionellen Medizin, bei der Genetik, Endokrinologie, Immunologie usw. immer bestimmender werden und das ­historisch verankerte, mechanistische Denken der ­Geburtshilfe und des rein chirurgischen Herangehens zurückdrängen. Allerdings sollte gerade an dieser ­Stelle daran erinnert werden, dass es Frauenärzte wie Kurt Semm waren, die mit dem minimalinvasiven ­Zugang auch die Chirurgie revolutionierten. Unvergessen, dass er sich nach der ersten laparoskopischen Entfernung eines Appendix von chirurgischer Seite den Vorwurf eines „Kunstfehlers“ anhören musste.

Während die minimalinvasive Chirurgie heute zum Standard gehört, bleibt dies für eine weitere Innovation abzuwarten, wie z. B. die Uterustransplantation. Wie auch immer: sie setzt schon jetzt einen weiteren innovativen Akzent.

Fazit

Die aktuelle Metamorphose der Frauenheilkunde führt zu einer Ausweitung des diagnostischen und therapeutischen Spektrums und vice versa. Unter dem Strich wird die Bedeutung des Faches weiterhin wachsen. Das gilt umso mehr, wenn diese Ausweitung mit Innovationen und hohen Therapiestandards gepaart ist.

Und doch ist es nicht nur dieses zunehmende medizinische Spektrum, das zu einem Zuwachs an Bedeutung führt, sondern auch und ganz besonders der soziokulturelle Wandel mit seinem geänderten Familien- und Menschenbild. Er hat bereits zu einer erheblichen Aufwertung der Endokrinologie und der Reproduktionsmedizin geführt und wird das auch noch weiter tun, womit die Bedeutung der Frauenheilkunde als Ganzes weiter voranschreiten wird. Die Frauenheilkunde ein „kleines Fach“? Wenn überhaupt, dann gestern.

Der Autor

Prof. Dr. Dr. med. habil. Wolfgang Würfel
KCM - MVZ
81241 München

info@ivf-muenchen.de

Bildnachweis: privat

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