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Gynäkologie

Grundlage der Lebensstilberatung

Die molekularen Ursachen des Menschlichen Alterns

Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk

26.4.2022

Ein hohes Alter ist für viele Erkrankungen der wichtigste Risikofaktor. Daran kommen wir nicht vorbei. Wer Altern behandeln will, muss Altern zuerst einmal verstehen. Dieser Beitrag fasst den aktuellen Stand des Wissens zu den molekularen Ursachen des Alterns zusammen.

Die 1950er-Jahre waren so etwas wie die Geburtsstunde der molekularen Medizin. 1953 entwickelten James Watson und Francis Crick ihr DNA-Modell der Doppelhelix und fast zeitgleich entstand die „Mutations-Akkumulations-Theorie“, wonach sich Schädigungen der DNA und anderer Zellstrukturen im Laufe der Zeit anhäufen und so zu zunehmenden Funktionseinbußen führen. Dieser von Peter Medawar postulierte Ansatz bietet auch heute noch die Grundlage vieler Alterungstheorien.

Der Ansatz hat hohe klinische Relevanz. Denn wer die Pathophysiologie des Alterns verstanden hat, versteht auch die Grundlagen der Karzinogenese, der Entwicklung von Demenzen oder der Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen. 2013 wurde erstmals eine umfassende Theorie publiziert, die den gesamten Bereich der molekularen Alterungsforschung integriert. „The Hallmarks of Aging“ [1] beschreibt die entscheidenden Alterungsprozesse auf molekularer Ebene. Demnach ist das Altern durch einen fortschreitenden Verlust der physiologischen Integrität gekennzeichnet, was zunehmend zu Fehlfunktionen führt. Und jede Fehlfunktion ist ein zusätzlicher Risikofaktor für viele Pathologien, einschließlich Krebs, Diabetes, kardiovaskuläre Störungen und neurodegenerative Erkrankungen.

Neun „Merkmale des Alterns“ werden in drei Kategorien eingeteilt (Abb. 1). Die Merkmale der ersten Gruppe sind Hauptursachen für Zellschäden: genomische Instabilität, Telomerverlust, epigenetische Veränderungen und der Verlust der Proteostase. Die Merkmale der zweiten Gruppe sind Teil kompensatorischer oder antagonistischer Reaktionen auf den Schaden. Diese Reaktionen mildern zunächst den Schaden, werden schließlich aber chronisch und irgendwann selbst schädlich. Dazu gehören deregulierte Nährstoffverwertung, mitochondriale Dysfunktion und zelluläre Seneszenz. Schließlich gibt es integrative Merkmale, die das Endergebnis der beiden vorangegangenen Kennzeichengruppen sind und letztendlich für den altersbedingten Funktionsabfall verantwortlich sind. Das sind die Erschöpfung der Stammzellen und veränderte interzelluläre Kommunikation. Die wichtigsten Punkte werden im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst.

Oxidativer Stress

Die älteste und vielleicht auch populärste Theorie stammt ebenfalls aus den 1950ern: die „Freie-Radikale-Theorie“ [2]. Freie Radikale sind Moleküle, ­deren Elektronenhülle ein ungepaartes Elektron aufweist. Dies verleiht ihnen eine enorme Reaktionsfähigkeit. In dem Bestreben, das fehlende Elektron aus einer anderen Verbindung an sich zu ziehen, schädigen freie Radikale Lipidmembranen, Zellorganellen, die DNA und andere Strukturen. Dabei wird die geschädigte Verbindung häufig ihrerseits in ein freies Radikal umgewandelt. Die Akkumulation ­dieser Schäden führt zu Funktionseinbußen [3]. Da es sich bei den freien Radikalen im Wesentlichen um aggressive Sauerstoffverbindungen handelt ­(reactive oxygen species, ROS), bürgerte sich der Begriff „oxidativer Stress“ ein.

Von großer Bedeutung sind die so verursachten DNA-Schäden. Schätzungsweise finden in jeder ­Zelle täglich zwischen 104 und 105 radikalinduzierte Schädigungen der DNA statt [4]. Diese werden in der Regel durch DNA-Reparatursysteme beseitigt, können ansonsten aber leicht zu Mutationen führen. Die Hoffnung, oxidativen Stress durch antioxidative Substanzen zu verhindern, einer der frühesten Therapieansätze der Anti-Aging-Medizin, brachte in groß angelegten Interventionsstudien aber kaum positive Ergebnisse [5,6].

Sehr wesentlich ist offensichtlich ein zweiter Faktor in Form antioxidativer Enzymsysteme. Dazu gehören die Superoxiddismutase (SOD), welche die Reduktion von O2 zu H2O2 katalysiert und die Gluthationperoxidase (GPX), die nicht nur H2O2, sondern auch Lipidperoxide reduziert. Studien zeigen, dass eine hohe Konzentration von SOD und GPX wahrscheinlich den besten Schutz gegen oxidativen Stress bietet [7]. Da diese antioxidativen Enzyme hauptsächlich als Antwort auf einen oxidativen Stressreiz gebildet exprimiert werden, können milde Stressreize einen positiven Effekt haben, indem sie Reparaturmechanismen stimulieren, die auch vor weiteren Belastungen schützen [8]. Das nennt man das Hormesis-Prinzip.

In die gleiche Richtung wie die „Freie-Radikale-Theorie“ zielt die Theorie der mitochondrialen Dysfunktion [9]. Hauptaufgabe der Mitochondrien ist die Energiegewinnung durch oxidative Phosphorylierung im Rahmen der zellulären Atmungskette mit Adenosintriphosphat (ATP) als biologischem Energieträger. In dieser Elektronenflusskette können immer wieder Elektronen entweichen und zur Bildung hochreaktiver Sauerstoffspezies führen.

Bereits bei normaler Stoffwechselaktivität betrifft dies etwa 1–3 % aller Elektronen, ihr Anteil steigt mit zunehmendem Alter der Mitochondrien. Die mitochondriale DNA (mtDNA) ist gegenüber oxidativem Stress sehr viel anfälliger als die nukleäre DNA, weil nicht durch Histone geschützt, und so kann eine Zunahme der Radikale zu einem Teufelskreis mitochondrialer Zerstörung führen. Das hat für die bioenergetische Bilanz der Zelle fatale Folgen und führt zu einem seneszenten Zustand der Zelle [10].

Auch hier kann die Induktion einer hormetischen Antwort zu einer mitochondrialen Optimierung führen. Als Stressoren beschrieben sind Kalorienrestriktion, milder oxidativer Stress oder niederschwellige Strahlenbelastungen. Derartige mitohormetische Reaktionen sind mittlerweile nicht nur für den Fadenwurm Caenorhabditis elegans – das „Haustier“ der Alternsforscher – belegt, sondern auch für den Menschen [11,12].

Chronisch niederschwellige Entzündungen

Chronisch niederschwellige Entzündungen (silent inflammation) sind nicht nur die Grundlage für zahlreiche degenerative Erkrankungen, sondern auch ein wichtiger Faktor für das biologische Altern [13]. Der Nachweis erhöhter proinflammatorischer Zytokine im Serum gilt daher inzwischen als ein starker Prädiktor für die übergreifende Zehnjahresmortalität älterer Erwachsener [14]. Das „intestinale Mikrobiom“, also die Gesamtheit der unseren Darm ­besiedelnden Bakterien, gilt als ein wichtiger Faktor für unser Immunsystem und letztlich die Gesamtgesundheit. Und dieses Mikrobiom unterliegt ebenfalls einem Alterungsprozess. Mit fortschreitendem Lebensalter durchdringen vermehrt Bakterien oder von diesen sezernierte Substanzen die Darmwand und lösen im umliegenden Gewebe chronisch entzündliche Prozesse aus [15]. Gleichzeitig nimmt auch die immunologische Kompetenz des Darms, die einen entscheidenden Teil der Gesamtimmunität übernimmt, ab [16]. Auch seneszente Zellen sezernieren proinflammatorische Zytokine, die ihre Umgebung verändern und dadurch die Funktion benachbarter normaler Zellen beeinträchtigen [17].

Als allgemeiner Marker für entzündliche Prozesse hat sich das CRP etabliert, das im Falle chronisch niederschwelliger Entzündungen in seiner hochsensitiven Form (hsCRP) bestimmt werden sollte. Therapeutisch sollte zweifellos die Sanierung chronisch entzündlicher Prozesse im Vordergrund stehen, etwa im Mund-Magen-Darm-Kanal oder in Stirn- und Nasennebenhöhlen. Da das Fettgewebe ein wichtiger Ort für die Produktion proinflammatorischer Zytokine ist, hat jede Maßnahme zur Gewichtsreduktion gleichzeitig auch einen antiinflammatorischen Effekt.

Die Hallmarks of Aging

Genom und Proteom

Die Frage, inwieweit Altern genetisch bedingt ist und welche Rolle Umwelt und Lebensstil spielen, wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Zwillingsstudien konnten zeigen, dass genetische Faktoren lediglich zu 20–30 % auf die Lebenserwartung Einfluss nehmen [18]. Der Lebensstil ist also der bei Weitem wichtigere Faktor, wenn es um das gesunde Altern geht.

Beim Menschen sind eine Reihe von Genen bzw. Genvarianten bekannt, die Einfluss auf die Lebenserwartung nehmen. So ist FOXO3 ein Regulatorgen, das den Organismus an unterschiedliche Außenbedingungen anpasst. Es bewirkt bei Nahrungsmangel Sirtuin-­Aktivierung, DNA-Reparatur und verbesserte Autophagie und inhibiert die Bildung von NF-Kappa-B und damit die Bildung proinflammatorischer Zytokine [19]. Studien an gesunden Hundertjährigen ­legen den Schluss nahe, dass es einen Zusammenhang von Langlebigkeit und der Expression von FOXO3 gibt [20,21].

Wesentlich größer ist der Einfluss der Epigenetik. Als Bindeglied zwischen Umwelt und Erbanlagen erlaubt sie es, die genetische Expression kurzfristig an geänderte Außenbedingungen anzupassen. Der wichtigste und am besten untersuchte Mechanismus ist die DNA-Methylierung, und Störungen des Methylierungsmusters sind ein typisches Zeichen von biologischem Altern [22]. Da Epigenetik ein spezifischer Mechanismus ist, der das individuelle Genom an die entsprechende Umwelt anpasst, lassen sich epigenetische Veränderungen auch durch gezielte Modifikationen der Umwelt und des Lebensstils beeinflussen. Gesundheitsfördernde Maßnahmen wie Sport oder Kalorienrestriktion wirken vorrangig über epigenetische Mechanismen [23].

Die Gesamtheit aller Proteine im Körper bildet das Proteom, und die vielfältigen Mechanismen zu seiner Aufrechterhaltung bezeichnet man als Proteostase. Dazu zählen die Proteinsynthese, die Aufrechterhaltung der Proteinintegrität und der Abbau gealterter und beschädigter Proteine. Vor allem die Akkumulation bzw. der unzureichende Abbau geschädigter Proteine ist pathogenetisch entscheidend für eine Reihe degenerativer Erkrankungen wie M. Alzheimer und M. Parkinson [24,25].

Ein wichtiger Prozess, der zur Schädigung von Pro­­­te­inen beiträgt, ist die Glykierung. Hierbei verbinden sich Zucker, hauptsächlich Fructose und Galactose, mit Proteinen. Über mehrere Zwischenschritte führt dies zu irreversiblen Verbindungen der Proteine untereinander und damit auch zu Funktionseinbußen. Die derart geschädigten Proteine werden als Endprodukte fortgeschrittener Glykierung (Advanced Glycation Endproducts, AGE) bezeichnet und sind die Hauptursache für viele Gefäß- und Nierenschäden [26]. Messen lässt sich die Glykierung relativ einfach über die Bestimmung des HbA1c, die glykierte Form des Hämoglobins.

Telomerverkürzung

Körperzellen verfügen nur über eine begrenzte ­Teilungskapazität [27]. Das ist über das Enzym Telo­merase getriggert, das für die Regeneration der Telomeren verantwortlich ist [28]. Die Telomere an den jeweiligen Enden der Chromosomen verkürzen sich bei jeder Zellteilung, da die DNA-Polymerase am Folgestrang nicht mehr ansetzen kann. Ist eine ­kritische Untergrenze der Telomerenlänge erreicht, erfolgt keine weitere Replikation und die Zelle wird seneszent oder apoptotisch. Die Telomerenlänge ist damit eng korreliert mit der noch verbleibenden Lebenszeit der Zelle [29].

Chronischer Stress führt offensichtlich zu einer schnelleren Verkürzung der Telomere, ebenso ­exogene Einflüsse wie Rauchen [30]. Umgekehrt haben gesundheitsfördernde Maßnahmen wie regelmä­ßiger Sport das Potenzial, Telomere auch wieder zu verlängern [31].

FAZIT: In den vergangenen 30 Jahren wurden die molekularen Grundlagen des Alterns weit­gehend aufgeklärt. Mit diesem neuen Wissen haben wir ein solides Fundament erreicht, um in klinischen Studien den Alterungsprozess zu beeinflussen. Aktuell können wir vor allem die positiven Einflüsse von Lebensstilveränderungen nutzen, die über die hier aufgezählten Mecha­nismen einen massiven Einfluss auf unsere Gesundheit haben.

Der Autor

Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk
Metropol Medical Center Nürnberg
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin (GSAAM)

kleine-gunk@mmc-nuernberg.de

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29 Niajou OT et al., J gerontol A 2009; 64: 860–864
30 Epel ES et al., Psychoneuroendocrinol 2006; 31: 277–287
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Bildnachweis: rikkyal (gettyimages), privat

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