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Allgemeinmedizin

Nephropathien

Bei Nierenerkrankungen individuelle Therapieanpassung möglich

Prof. i. R. Dr. med. Frieder Keller

22.7.2022

Einer frühzeitigen Identifizierung von Nierenerkrankungen stehen die Kosten eines regelmäßigen Screenings auf Kreatininwert und Harnstatus entgegen. Dabei ist zumindest bei bestimmten Personengruppen eine routinemäßige Überprüfung sinnvoll. Die vielfältigen Therapieoptionen orientieren sich am individuellen Patienten.

 Für viele gab es lange Zeit nur zwei Formen der Nierenkrankheit, die kompensierte und die dekompensierte Niereninsuffizienz. Diese Einteilung beruht auf einem doppelten Irrtum:

  1. Bei einer kompensierten Niereninsuffizienz braucht man nichts tun und
  2. bei der dekompensierten Niereninsuffizienz bleibt nur die Dialyse.

Heute spricht man von Nierenerkrankungen, um den Handlungsbedarf zu unterstreichen und man unterscheidet die akuten von den chronischen. Die akuten sind reversibel, wenn es gelingt, die Ursache zu beseitigen, und die chronischen sind zwar nicht heilbar, aber immer behandelbar.

Einteilungen

Die akuten Nierenerkrankungen (AKI, Acute Kidney Injury) werden abhängig vom Kreatininanstieg (1,5-fach, 2-fach oder 3-fach) in drei Stadien eingeteilt. Ein normaler Kreatininwert schließt eine AKI aber nicht aus. Um eine akute Nierenerkrankung zu erkennen, braucht es zwei Kreatinin-Messungen, aber um sie zu belegen, braucht man drei Kreatinin-­Werte. Ein Kreatinin-Anstieg um das 1,5-Fache entspricht einem Abfall der glomerulären Filtrationsrate (GFR) von 33 %, sodass die Steilheit der GFR-Verlusts (-deltaGFR) im Zeitintervall (t2 – t1) die Dringlichkeit anzeigt.

Wenn die GFR2 zum Zeitpunkt t2 kleiner ist als die GFR1 zum Zeitpunkt t1, wird das Vorzeichen negativ und gibt den Nierenfunktionsverlust an. Dieser deltaGFR-Wert kann zukünftig gut auch automatisch berechnet und mit den Laborergebnissen mitgeteilt werden.

Wünschenswert wäre die Erfassung der Urinausscheidung. Befunde werden allerdings gerade in Akutfällen sofort benötigt. Die wenigsten Patienten können aber auf Kommando Urin lassen und das prärenale Nierenversagen ist typischerweise gekennzeichnet vom ­Volumenmangel. Ein Blasenkatheter könnte Klarheit schaffen, aber das Legen eines Urinkatheters gehört nicht zu den Sofortmaßnahmen. Patienten mit Volumenmangel oder auch Infekten benötigen Infusionen bevor sie wieder Urin ausscheiden.

Wenn nach Gabe von Flüssigkeit kein Urin kommt und auch nach Gabe von Furosemid die Ausscheidung < 100 ml/Stunde bleibt, besteht eine Oligurie und eine progrediente Form der akuten Nierenerkrankung liegt vor. Dies hat prognostische Bedeutung, weil die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie droht.

Chronische Nierenerkrankungen (CKD) werden in fünf Stadien abhängig von der GFR-Einschränkung eingeteilt und in vier Stadien abhängig von der Albuminurie (uACR; Tab.). CKD-Stadium G3 geht bis GFR > 30 ml/min. CKD-Stadium A3 beginnt beim Albumin zu Kreatinin Quotienten > 300 mg/g. Von einer chronischen Nierenerkrankung spricht man, wenn die eGFR < 60 ml/min und/oder die Albuminurie > 30 mg/g liegt. Die glomeruläre Filtrationsrate wird mit der CKD-EPI-Formel (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration) aus dem Kreatinin im Serum, dem Alter und dem Geschlecht berechnet.

Die uACR ergibt sich aus der Konzentration von ­Albumin dividiert durch die Kreatinin-Konzentration im Frischurin. Man kann so entweder für Verdünnung oder Konzentrierung korrigieren und braucht keinen Sammelurin mehr. In Studien wird die Albuminurie bevorzugt, in der klinischen Routine empfiehlt es sich jedoch, die etwa doppelt so hohe Proteinurie zu bestimmen, da so auch Paraproteine wie beim Plasmozytom erfasst werden.

Eine Funktionsstörung wird durch das Kreatinin und die eGFR angezeigt, eine Strukturstörung wird durch Eryurie und Proteinurie im Urin-Streifentest erkennbar. Ein normaler Urintest schließt Strukturstörungen aus. Ein pathologischer Streifentest muss aber kontrolliert werden, um eine Strukturstörung zu beweisen. Nicht jede Funktionsstörung macht eine Strukturstörung, aber jede Strukturstörung führt irgendwann zu einer Funktionsstörung.

Risikofaktoren

Von Nierenerkrankungen betroffen sind vor allem Patienten mit Diabetes mellitus und Hypertoniker. Aber auch Übergewicht und Schlafapnoe können Ursachen einer CKD sein. Ein Nierenfunktionsverlust von 1 ml/min pro Jahr ist normal und eine GFR < 60 ml/min bei über 70-Jährigen belegt noch keine Nierenerkrankung. Eine GFR < 60 ml/min hat aber für die Arzneimitteldosierung gerade auch für Ältere schon Konsequenzen: nierenabhängige Medikamente müssen dann mit der Dosis angepasst werden. In der ambulanten Medizin sind es gerade die neueren Medikamente, die eine Dosisanpassung benötigen: Antidiabetika (Metformin, Sitagliptin, Exenatid), Anti­koagulanzien (Rivaroxaban, Apixaban), Antikon­vulsiva (Gabapentin, Pregabalin, Levetirazetam), Analgetika (Tramadol, Morphin, Oxycodon) und Antiinfektiva (Levofloxacin, Tenofovir).

Die wichtigsten akuten Nierenerkrankungen sind die Rapid-progressive Glomerulonephritis (RPGN) und die akute interstitielle Nephritis (AIN). Die RPGN ist der nephrologische Notfall und bei einem Verdacht muss der Patient in eine Klinik eingewiesen werden.Dort kann durch eine Nierenbiopsie die Diagnose RPGN gesichert und dann auch mit einer immunsuppressiven Kombinationstherapie begonnen ­werden ( s. u.). Erfolgen Diagnose und Therapie frühzeitig, ist die Prognose gut.

Eine AIN ist häufig durch Arzneimittel verursacht und erfordert zunächst nur das Absetzen entsprechender Medikamente wie Ibuprofen, Statine und Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-­Systems (RAAS). Wenn sich dann allerdings die Nierenfunktion nicht sofort wieder bessert, sollte das stationär durch eine Nierenbiopsie abgeklärt werden. Hier kann auch eine Prednisolon-Therapie erforderlich sein.

Präventive Maßnahmen

Die Nieren lassen sich schützen durch mediterrane Ernährung, körperliche Aktivität, Verzicht auf Nikotin, wenig Kochsalz und Vermeiden von Schmerzmitteln, vor allem deren Langzeitgebrauch. Durch vegetarische Kost wird die Carboanhydrase gehemmt, was der Übersäuerung des Bluts komfortabel entgegenwirkt. Eine Flüssigkeitsaufnahme > 1 500 ml/Tag ist hingegen nicht hilfreich, außer bei akut ungewöhnlichen Verlusten. Patientinnen mit häufigen Harnwegsinfekten sollen allerdings viel trinken – aber nicht um die GFR zu bessern, sondern um die Harnblase durch regelmäßige Toilettengänge zu spülen.

Früherkennung

Nierenerkrankungen tun nicht weh, es gibt kein Leitsymptom und keine Blickdiagnose. Sie werden oft nicht oder zu spät erkannt. Aber ansteigende oder erhöhte Kreatininwerte und ein wiederholt pathologischer Harnstatus können eine Nierenerkrankung anzeigen. Ein regelmäßiges Screening in der ambulanten Medizin ist aber nicht kosteneffektiv. Bei erhöhtem Blutdruck oder Diabetes mellitus sollten die Nieren jedoch unbedingt abgeklärt werden. Zu empfehlen ist zudem ein Screening und eine routinemäßige Bestimmung des Kreatininwerts

  1. bei allen Patienten, die eine stationäre Behandlung im Krankenhaus benötigen und
  2. bei allen Patienten mit unklarem Krankheitsbild.

Zur Früherkennung – vor allem in der ambulanten Medizin – eignet sich der Urintest. Ist er negativ, schließt das eine Nierenerkrankung so gut wie aus. Neue Leitlinien der Allgemeinmedizin bevorzugen als Urinuntersuchung gleich die uACR. Der einfache Streifentest hat den Vorteil, dass auch eine Mikrohämaturie miterfasst wird. Allerdings müsste der Urin jährlich kontrolliert werden, um eine CKD zu erkennen. Darüber hinaus kann der Urintest oft auch aus vorübergehenden Gründen pathologisch ausfallen und muss dann kurzfristig kontrolliert ­werden. Nur ein nach vier Wochen wiederholt pathologischer Urintest macht eine Nierenkrankheit wahrscheinlich.

Folgen

Akute Nierenerkrankungen können tödlich enden, wenn sie nicht rechtzeitig diagnostiziert und therapiert werden. Vor allem die Hyperkaliämie > 6,5 mmol/l, das Lungenödem und das urämische Koma sind konservativ kaum zu beherrschen.

Chronische Nierenerkrankungen haben weitreichende Folgen und Komplikationen. Das wichtigste Urämietoxin dürfte Parathormon sein. Eine Nebenschilddrüsen-Hyperplasie mit Hyperparathyreoidismus hat bei einer CKD zwei Ursachen: Zunächst eine Niereninsuffizienz, also eine verminderte Zahl funktionstüchtiger Nephrone. Das hat nicht nur einen Abfall der GFR zur Folge, sondern auch eine verringerte 1,25-Hydroxilierung von Vitamin D zu Calcitriol. Zweitens kommt es infolge der verminderten GFR zu einem Phosphatstau im Blut. Calcitriolmangel und Hyperphosphatämie verursachen eine Hyperplasie der Epithelkörperchen mit Hyperparathyreoidismus. Daraus folgt eine Entkalkung des Knochens mit Transmineralisation. Die Aorta wird dann kalkdichter als die Wirbelsäule (Abb. 1) sein. Die Aortenklappe verkalkt und die Knochen werden brüchig.

Außerdem gehen alle Formen der Nierenerkrankung mit erhöhtem Blutdruck einher. Wenn dann noch ein Diabetes mellitus vorliegt, steigt das Risiko für eine koronare Herzkrankheit um das Zehnfache. Zusätzlich besteht die Neigung zu Vorhofflimmern. Eine frühzeitige kardiologische Abklärung der Herzkranzgefäße und eine Intervention an den Klappen können Schlimmeres verhindern.

Medikamentöse Therapieoptionen

Besteht der Verdacht auf eine Nierenkrankheit, sollten zunächst alle Medikamente kritisch überprüft werden. Oft kann man auf nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen verzichten und Statine sowie Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI) oder RAAS-Inhibitoren können pausiert werden.

Im Gegensatz zu früher stehen heute zahlreiche Therapieoptionen für akute und chronische Nieren­erkrankungen zur Verfügung. Außer den Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems sind auch Mineralokortikoid-Rezeptorenantagonisten wie Finerenon nephroprotektiv. Von Sodium-dependent glucose transport(SGLT)-2-Inhibitoren wie Dapagliflozin profitieren selbst Patienten ohne Diabetes mellitus. Antidiabetika wie die SGLT2-Inhibitoren und die Glucagon-like-Peptide-1-Rezeptoragonisten schützen nicht nur die Nieren, sondern senken bei CKD auch die Sterblichkeit, und zwar besser als RAAS-Inhibitoren (Abb. 2).

Bei immunologisch bedingten Nierenerkrankungen wie den Glomerunephritiden stehen heute außer Prednisolon, Mycophenolat, Azathioprin, Cyclosporin, Tacrolimus, Voclosporin, Avacopan, Iptacopan oder Atrasentan auch Antikörper wie Rituximab, Belimumab und Eculizumab zur Verfügung. Immunsuppressiva haben die Therapiechancen nicht nur akut bei Rapid-progressiver Glomerulonephritis, sondern auch die Erhaltungstherapie bei membranöser Nephritis und Immunglobulin-A-Nephritis (IgAN) deutlich verbessert.

Generell benötigen Patienten mit CKD aktives Vitamin D (Calcitriol). In fortgeschrittenen Stadien werden dann Phosphatbinder (Sevelamer), intravenös Eisen und erst danach bei Hämoglobin < 10 mg/dl auch Erythropoetin erforderlich. Da eine eingeschränkte Nierenfunktion mit erhöhtem Hepcidin einhergeht, kommt es regelhaft zu Eisenresorptionsstörungen, was eine intravenöse Substitution (Eisengluconat, Eisencarboxymaltose) erforderlich machen kann. Die neuen HIF-Stabilisatoren (Prolyl Hydroxylase[PHD]-Inhibitoren) wie Roxadustat setzen endogenes Erythropoetin frei und hemmen Hepcidin. Sie verbessern die Anämie ohne zusätzliche Eisenzufuhr und wirken bei akuten Nierenerkrankungen möglicherweise nephroprotektiv.

Die konservative Therapie ohne Dialyse geht vor allem bei > 80-Jährigen mit einer höheren Lebensqualität einher – allerdings ist bei rein konservativer Therapie die Lebenserwartung im Vergleich zur Hämodialyse eingeschränkt (median 8 vs. 18 Monate).

Bei einer konservativen Therapie der fortgeschrittenen CKD im Stadium G5 sind Hauptgefahr und unbedingt zu vermeiden: die Überwässerung und die Hyperkaliämie. Medikamente sollten nur zur symptomatischen Therapie eingesetzt, alle anderen aber möglichst abgesetzt werden. Das Hyperkaliämierisiko der ACE-Hemmer und Angiotensin-Rezeptorblocker überwiegt deren eigentlich nur langfristigen Nutzen. Schleifendiuretika wie Furosemid in angepasst möglicherweise höherer Dosierung und eine Beschränkung der Trinkmengen auf 1 000 ml pro Tag werden zur Regel bei einer konservativen Therapie.

 

Nierenersatzbehandlung

Patienten mit akuten Nierenerkrankungen benötigen im AKIN-Stadium 3 oder bei einer Urinausscheidung < 500 ml/Tag eine Nierenersatztherapie. Bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen ist eine Nierenersatztherapie erst ab einer eGFR < 10 ml/min erforderlich – und auch dann nur, wenn sie Symptome haben (Übelkeit, Appetitlosigkeit, Ödeme, Atemnot, Krampfanfälle). Ein frühzeitiger Dialysebeginn ohne Symptome hat keine Vorteile.  

Bei akuten Nierenerkrankungen stehen außer der Hämodialyse noch die Tankdialyse oder die kontinuierliche Hämofiltration zur Verfügung. Bei chronischen Nierenerkrankungen sind den Patienten gleichwertig anzubieten die Hämodialyse, die Bauchfelldialyse oder die konservative Therapie. Auch über eine Nierentransplantation und die Lebendspende müssen Patienten informiert und aufgeklärt werden.

Die Nierentransplantation löst nicht alle Probleme, garantiert aber unter allen Formen der Nierenersatztherapie die beste Lebensqualität. Große Fortschritte macht die Xenotransplantation genetisch modifizierter Schweinenieren.

Sterblichkeit senken
Die wichtigsten akuten Nierenerkrankungen stellen die Rapid-progressive Glomerulonephritis (RPGN) und die akute interstitielle Nephritis (AIN) dar. Bei rechtzeitiger Diagnose sind diese heilbar. Den größten Fortschritt bei der Behandlung chronischer Nierenerkrankungen haben die SGLT2-Inhibitoren gebracht – also nicht nur bei Diabetes mellitus. Sie senken die Sterblichkeit.

Der Autor

Prof. i. R. Dr. med. Frieder Keller
Nephrologie und Klinische Pharmakologie Universitätsklinikum Ulm

frieder.keller@uni-ulm.de

Literatur beim Autor

Bildnachweis: channarongsds (gettyimages)
Bildnachweis: Prof. i. R. Dr. med. Frieder Keller, Universitätsklinikum Ulm

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