Inzwischen wird die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zunehmend auch als Erkrankung des Erwachsenenalters wahrgenommen. Die Symptomatik verändert sich allerdings in ihrer Art und Ausprägung. Die Behandlung einer ADHS hängt vom individuellen Leidensdruck ab. Dr. med. Sabine Krämer klärt auf.
Patientencharakteristika
Kathrin, 39 Jahre alt, gebürtige Amerikanerin, mit High-School-Abschluss, Studium in den USA und Deutschland, Auswanderung nach Deutschland, verheiratet, ein 3-jähriger Sohn, arbeitet als Software-Trainerin.
Anamnese
· Vorstellungsgrund:
Verdacht auf adulte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Der Verdacht wurde bereits im Alter von 14 Jahren geäußert, jedoch nicht weiter verfolgt. Ein erster Screening-Test (Adult ADHD Self-Reporting Scale, ASRS-V1.1) war positiv.
· Schulische und weitere Entwicklung:
In der Kindheit bestanden ausgeprägte Konzentrationsstörungen, eine erhöhte Ablenkbarkeit sowie eine motorische Unruhe. Im Unterricht wippte sie mit den Beinen. Um zuhören zu können, musste sie sich parallel beschäftigen: Sie strickte oder las in einem Buch. Trotzdem gelang es ihr durch ihre hohe Begabung, genügend Unterrichtsstoff mitzubekommen und ihren High-School-Abschluss zu erzielen. Danach folgte ein Studium (Deutsch und Biologie), das sie nach der Auswanderung nach Deutschland beendete. Das Studium fiel ihr sehr schwer und sie musste besonders viel lernen. Bei den Professoren galt sie als sehr begabt und erhielt Angebote für eine Promotionsstelle.
Nach Abschluss des Studiums scheiterte sie während des Referendariats an den Unterrichtsvorbereitungen: Sie konnte keine Prioritäten setzen, verzettelte sich, konnte sich nicht entscheiden, welche Informationen sie im Unterricht präsentierte und welche nicht. Diese Situation habe sie so überfordert, dass sie das Referendariat abbrach und ihren „Traumberuf“ Lehrerin aufgab. Erstmals trat eine depressive Episode auf.
· Aktuelle Situation und Symptomatik:
Kathrin arbeitet jetzt als Quereinsteigerin in einer Softwarefirma und gibt Trainings zum Thema E-Learning. In der Trainingssituation ist sie durch ihre kommunikative und dynamische Art sehr erfolgreich, jedoch bereiten ihr die Vorbereitungen große Schwierigkeiten: sie verzettelt sich, springt von einem Thema zum anderen, lässt sich leicht ablenken und hat große Probleme, mehrere Dinge gleichzeitig im Blick zu behalten. Längere kognitive Anforderungen fallen ihr aufgrund starker Konzentrationsstörungen schwer. Auch im Haushalt ist sie sprunghaft, hat keinen Überblick und kann keine Ordnung halten.
Die Patientin leidet außerdem unter einer ständigen inneren Anspannung und Unruhe, sie ist ungeduldig und neigt zu unbedachten Äußerungen. Der Umgang mit ihrem 3-jährigen Sohn ist für sie sehr herausfordernd, es ist ein schwieriges Kind, bei dem die Betreuer im Kindergarten zu einer ADHS-Diagnostik geraten haben.
Diagnose
Die Diagnose-Kriterien der adulten ADHS gemäß DSM-V (5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) waren bei der Patientin erfüllt. Ergänzende psychometrische Instrumente untermauerten die klinische Diagnose:
Wurs-k: Summenscore 54 (cut-off: 30)
ADHS-SB: Summenscore 47 (cut-off: 15)
CAARS-Profil: In allen Skalen lagen die T-Werte zwischen 70 und 80 und damit in dem für eine ADHS typischen Bereich.
Therapie/Therapieverlauf
Nach ausführlicher Beratung erfolgte eine medikamentöse Einstellung auf retardiertes Methylphenidat (Medikinet® adult): Bereits unter 2 x 10 mg des Präparats hatte die Patientin den Eindruck, weniger Gedanken gleichzeitig im Kopf zu haben und innerlich etwas ruhiger zu sein. Unter 2 x 20 mg zeigte sich eine deutliche Verbesserung der Alltagsfunktion: Tätigkeiten im Haushalt gehen ihr müheloser von der Hand, das Aufräumen bereitet keine Probleme mehr („Auf einmal ist das Chaos weg“). Kognitive Anforderungen sind keine große Hürde mehr („Ich kann die Dinge einfach erledigen und habe den Überblick“). In ihren Gedankengängen ist die Patienten wesentlich fokussierter und sie hat mehr Durchhaltevermögen, z. B. ist die Konzentration beim Autofahren besser.
Für die Patientin selbst unerwartet kam es zu einer deutlichen Verbesserung der Emotionsregulation und Impulskontrolle: Sie kann mit ihrem Sohn geduldiger und gelassener umgehen und lässt sich nicht mehr so leicht frustrieren.
Persönliches Fazit der Patientin: „Es ist eine unfassbare Erleichterung für mein ganzes Leben. Ich möchte nicht mehr auf die Medikamente verzichten müssen.“ Nebenwirkungen hätte sie laut ihrer Aussage keine. Die Kasuistik zeigt, dass das Vorurteil, Menschen mit ADHS seien allgemein schulisch und akademisch nicht leistungsfähig, nicht stimmt. Nicht selten hören Erwachsene mit ADHS sogar von Psychiatern: „Wenn Sie das Abitur geschafft haben, können Sie gar keine ADHS haben“, wodurch der hohe Leidensdruck, den dieses Störungsbild verursacht, verleugnet wird.
Literatur bei der Autorin
Impressum
Bericht: Dr. med. Sabine Krämer I Redaktion: Nicole Hein I Konzept: Elke Engels
MiM Verlagsgesellschaft mbH (Neu-Isenburg)
Mit freundlicher Unterstützung der Medice Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG (Iserlohn)