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Spezialthemen

Neurodermitis und Psyche

Die Krankheit zum aus der Haut fahren!

Dipl.-Psych. Dr. Judith A. Bahmer

5.5.2021

Die Neurodermitis-Forschung fokussiert seit Jahren immunologische Faktoren und Immuntherapien. Bedeutung und Auswirkungen psychischer Faktoren werden kaum noch bearbeitet, obwohl es sich bei den Betroffenen um eine durch Juckreiz, Schmerz und Entzündung stark belastete, psychosomatisch bedeutsame Patientengruppe handelt.

Die lange Zeit gängige psychoanalytische Interpretation der Neurodermitis als Kontaktstörung ging zu Unrecht davon aus, dass die Mutter aufgrund ihrer ambivalenten Einstellung zu dem kranken Kind dessen psychische Reifung durch Überbehütung verhindere. Inzwischen ist klar, dass die Einstellung der Mutter nur ein Faktor in der multifaktoriellen Ätiologie und Pathogenese der Neurodermitis ist.

Vulnerabilitäts-Stress-Modell berücksichtigen

Mitursächliche und krankheitsmodulierende psychische Faktoren bei Neurodermitis werden mit dem biopsychosozialen Ansatz des Vulnerabilitäts-Stress-Modells erklärt. Dieses Modell integriert neben psychischen Faktoren wie Persönlichkeitsstil und Emotionsregulation auch psychoimmunologische Faktoren und Verhalten. Für den Krankheitsverlauf bedeutsame Stressoren sind zum einen Konflikte im zwischenmenschlichen ­Bereich und am Arbeitsplatz, zum anderen alltägliche Belastungen, sogenannte „daily hassles“. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen spielen neben familiärem Stress auch Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsängste innerhalb der Peer-Gruppe eine wichtige Rolle. Auch negative Lebensereignisse sind Stressoren, die zu einer Verschlechterung des Hautbefundes mit verstärktem Juckreiz und Kratzorgien führen, oft begleitet von Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Konzentrations- und Leistungseinbußen. Der Teufelskreis, den diese Stressoren in Gang ­setzen, führt zu behandlungsbedürftigen emotionalen ­Störungen wie Depression und Angst.

Einfluss der individuellen Persönlichkeitsstruktur

Sowohl die Ausprägung des klinischen Bildes der Neurodermitis als auch der Erfolg der Krankheitsbewältigung („Coping“) werden nach neueren Untersuchungen von der individuellen Persönlichkeitsstruktur beeinflusst. Da sich die Persönlichkeitsstruktur bereits in der Kindheit und Jugend formt, sind persönlichkeits­psychologische Aspekte für den Umgang mit an Neurodermitis erkrankten Kindern und Jugendlichen bedeutsam. Psychische Folgestörungen lassen sich mithilfe früher Eltern-Kind-Schulungen abschwächen. In diesen Seminaren werden Methoden zur Emotionsregulation und zum Juckreizmanagement vermittelt. Diese Schulungen sind besonders wichtig zur Modifikation des Kratzverhaltens, ist doch der Impuls, zu kratzen, als spinal verschalteter, autonomer Reflex kaum zu unterdrücken. Patienten fühlen sich diesem quälenden Juckreiz hilflos ausgeliefert. Fatalerweise verstärkt die als wohltuend empfundene Erleichterung durch Kratzen der juckenden Haut den Kratz-Impuls noch und trägt so zur Chronifizierung der Entzündung der Neurodermitis-Haut bei; ein Juckreiz-Kratz-Teufelskreis etabliert sich. Die von Angehörigen verordneten Regeln und auch gut gemeinte Ratschläge von Dritten werden als Fremdbestimmung empfunden. Wut, Scham und Schuldgefühle führen zu einer Abwehrhaltung, die nicht selten in die Verweigerung sinnvoller therapeutischer Maßnahmen („Non-Compliance“, „Non-Adherence“) mündet. Durch die heute mögliche wirksame Therapie schwerer Verlaufsformen der Neurodermitis mit Biologika lässt sich ein solcher therapeutischer Nihilismus vermeiden.

Neurodermitis- und Psoriasis-Patienten unterscheiden sich im Persönlichkeitsprofil

Eigene Untersuchungen zur Persönlichkeitsstruktur bei ausgewählten Hautkrankheiten zeigen, dass sich die Persönlichkeitsprofile von Patienten mit Neurodermitis deutlich von denen der Patienten mit Psoriasis unterscheiden (Abb.). Patienten mit Neurodermitis zeigen ein hohes Maß an Selbstbestimmung, eine negativistisch-vorsichtige Grundhaltung sowie eine eher schizoid anmutende Affektlage. Auf das Verhalten bezogen zeichnen sich diese ­Patienten durch Abgrenzung und eine kritisch-vorsichtige Prüfung äußerer Einflüsse und Eindrücke aus. Wir nehmen an, dass dieses Verhalten durch einen langen Leidensweg sowie der Odyssee durch mehr oder weniger wirksame Behandlungsphasen mitbedingt ist.

Krankheitsaufklärung und -verständnis ist für Betroffene und Angehörige entscheidend

Auf der Basis dieser psychologischen Erkenntnisse gilt es, eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, mit dem Ziel, die Betroffenen für psychotherapeutische Maßnahmen zur Juckreizkontrolle, zur Verbesserung des Copings und der Emotionsregulation zu gewinnen. Eltern von Neurodermitis-Kindern sollten gleichermaßen hinsichtlich des Krankheitsverständnisses und des Erkrankungsumgangs geschult werden.
Hierzu bieten sich vor allem verhaltenstherapeutische Einzel- und Gruppenpsychotherapien sowie Patientenschulungsprogramme an, wie die der Arbeits­gemeinschaft Neurodermitisschulung (AGNES e. V.). Solche Schulungen werden nicht nur stationär, sondern auch ambulant für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und für Eltern betroffener Kinder angeboten. Auf der Internetseite der AGNES e. V. findet sich eine Liste der Anbieter von Neurodermitis-Schulungen nach Postleitzahl geordnet. Für Eltern, deren Kind an einer schwereren Form der Neurodermitis leidet, ist eine Schulung zum Krankheitsverständnis und zum Umgang mit der Erkrankung wichtig, kann doch die psychische Belastung durch ein Tag und Nacht kratzendes, weinendes, keine Ruhe findendes Kind die Eltern überfordern und zu Situationen führen, die das Kindeswohl ­gefährden. Nur gut informierte Eltern, die vertrauensvoll in den therapeutischen Prozess eingebunden sind, können ihre Kinder in dieser hoch belastenden Erkrankung angemessen begleiten.

Marburger Neurodermitis-Fragebogen als hilfreiches Praxistool

Bei erwachsenen Patienten mit Neurodermitis ­können bereits bei der Konsultation in der dermatologischen Praxis krankheitsspezifische Bewältigungs­strategien mithilfe des „Marburger Neurodermitis-Fragebogens“ (MNF) eingeschätzt werden. Mit diesem Fragebogen werden auch Grad der Stigmatisierung, Leidensdruck, Lebensqualität und Problembewusstsein erfasst. Die wenig zeitaufwendige Auswertung des MNF ­erlaubt es, Notwendigkeit und Art einer supportiven psychotherapeutischen Intervention zu bestimmen. Bei Anpassungsstörungen mit depressiver und ängstlicher Symptomatik kommen psycho­therapeutische Verfahren in Betracht, die eine ­kognitive Um­struk­turie­rung negativer Selbstbewertung forcieren und ein selbstsicheres Auftreten fördern. Ziel ist es, die Patienten zu lehren, krankheitsbezogene, negative Gedanken und Gefühle zu regulieren, die Erkrankung zu akzeptieren und diese in das Selbstbild zu integrieren. Im Zuge sozialer Kompetenztrainings kann das Selbstbewusstsein mit der Erkrankung im interpersonellen Kontext gestärkt werden. Innerhalb einer Verhaltenstherapie werden das Juckreiz-Kratz-Verhalten protokolliert und Alternativen zum Kratzen trainiert. Manche Patienten profitieren von Entspannungs- und Imaginationstechniken wie Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training und Achtsamkeitstechniken.

FAZIT:

Aus psychologischer Sicht sind die wichtigsten Bausteine einer psychosomatisch orientierten Therapie der Neurodermitis Schulungsprogramme und verhaltenstherapeutische Interventionen, in Einzelfällen auch eine tiefen­psychologische Psychotherapie.

Die Autorin

Dipl.-Psych. Dr. Judith A. Bahmer
Psychologische Psychotherapeutin
Praxis für Psychotherapie
48145 Münster

psycheundhaut@gmail.com

Literatur bei der Autorin

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Bildnachweis: privat

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