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Onkologie

Palliativpflege: Lebensqualität zählt

Der Handlungs- und Entscheidungsraum wird weiter

Karola Selge

In der Versorgung schwer kranker und sterbender Menschen ist seit Jahrzehnten eine rasante Entwicklung zu verzeichnen, die auch gegenwärtig noch nicht am Ende angelangt ist, wie die Erweiterung der S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ vom August 2019 zeigt. Der vorliegende Beitrag befasst sich damit, wie ein erweitertes Verständnis für Tod und Sterben in der Gesellschaft und in der Medizin das Berufs- und Selbstverständnis und die Aufgaben professionell Pflegender beeinflusst und verändert.

Die Untersuchungen zur Einsamkeit und Isolierung sterbender Menschen in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und die erschreckende Schlussfolgerung, dass „sterbende Patienten zunehmend aus dem medizinischen Versorgungssystem ‚ausgelagert‘ und nicht selten miserabel betreut“[1] wurden, weil die Medizin Leiden, Angst und Schmerzen, gar Tod und Sterben als Misserfolg wertete,[2] führten in den 80er-Jahren zum Beginn einer gezielten Palliativversorgung. So wurde 1983 erstmals eine Palliativstation eingerichtet,[3] etwa zwei Jahre später entwickelte sich als Folge ehrenamtlichen Engagements die Hospizbewegung,[4] und seit 2007 werden SAPV-Teams (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung)[5] aufgebaut.

Das nachfolgende Schaubild verweist an den sich überlappenden Schnittflächen auf die Kooperation der drei eigenständig arbeitenden Einrichtungen. Das primäre Behandlungsziel der Palliativstationen ist es, die oft vielfältigen körperlichen Beschwerden der Patienten durch die Zusammenarbeit in einem multiprofessionellen Team, das aus Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Psychologen, Therapeuten und ehrenamtlichen Helfern besteht, so weit zu lindern, dass die Patienten nach Hause, ins Pflegeheim oder in ein stationäres Hospiz entlassen werden können. Bedarf ein Patient mit schwerer Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung nach der Entlassung einer Versorgung, die über die allgemeine palliative hinausgeht, so wird das Krankenhaus den Einsatz eines ebenfalls multidisziplinären SAPV-Teams verordnen, das 24 Stunden bei Schmerzen, Wundkomplikationen, Übelkeit, Atem­not, Angst und Verwirrung erreichbar ist. Zum SAPV-Team können auch ehrenamtliche Hospizhelfer gehören, deren wesentliche Aufgabe in der ambulanten Begleitung der Sterbenden und ihrer Angehörigen besteht. Stationäre Hospize verstehen sich als eigenständige Einrichtungen mit einem ganz eigenen Konzept, bei dem die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter von palliativmedizinisch erfahrenen Ärzten unterstützt werden.

Palliative Care

Zur institutionellen Entwicklung kam das Konzept des „Caring“ hinzu, wie es auch in der nicht palliativen Pflege zur Grundlage der alltäglichen Arbeit geworden ist, und bestimmt seither die Handlungen und ethischen Grundsätze sowohl in der Palliativmedizin und Palliativpflege als auch bei der psychosozialen Unterstützung sterbender Menschen und ihrer Angehörigen.

Nach diesen Grundsätzen – Kontakt aufnehmen, sich einander zuwenden, Achtsamkeit entwickeln, sich zur Verbundenheit bekennen – wird die Begegnung zwischen Arzt/Pflegeperson und dem zu pflegenden Menschen als eine verstanden, die sich auf der Ebene des zu berücksichtigenden körperlichen Bedarfs und auf der „Ebene der persönlichen Präsenz, auf der leiblichen Ebene“[6] vollzieht. Diese Unterscheidung von Körper und Leib lässt sich in aller Kürze so definieren: man HAT einen Körper, IST aber selbst der Leib, wie Gernot Böhme sagt: „Leib: die Natur, die wir selbst sind“[7]. Es ist der Leib, mit dem wir wahrnehmend in der Welt sind und der es anderen ermöglicht, unser Befinden wahrzunehmen und auf unsere Bedürfnisse einzugehen.

In diesem Sinne sind auch die Maßgaben der WHO zu verstehen, nach denen die Aufgaben der Palliative Care nicht auf die Schmerzlinderung beschränkt bleiben dürfen, sondern erst dann der eigentliche Zweck, nämlich die Lebensqualität der schwer kranken Menschen und ihrer Angehörigen zu erhöhen, erfüllt wird, wenn auch psychologischer und spiritueller Beistand geboten werden. Unter diesem Axiom kann der Mensch auch von Seiten der Medizin nicht ausschließlich als Körper behandelt werden. So betonen Alt-Epping und Nauck, dass die Palliativmedizin sich auf evidenzbasiertes Wissen [8] stütze,[8] um eine auf den jeweiligen Menschen abgestimmte Behandlung zu gewährleisten. Ein Konsens für die weitere Behandlung könne dann aber nur auf der Ebene einer patientenzentrierten Kommunikation gefunden werden.

Palliative Care in der Palliativpflege

Patientenzentrierte Kommunikation wird in der „Erweiterten S3-Leitlinie Palliativmedizin“ als aufrichtige, empathische und wertschätzende Kommunikation charakterisiert, die unabhängig vom kulturellen und religiösen Hintergrund die Werte und Ressourcen, die Sorgen und Ängste des Patienten miteinbezieht – und das „beim größtmöglichen Erhalt seiner Selbstbestimmung“,[9] d. h. dass Menschen auf ihrem letzten Weg das Recht zuerkannt wird, über ihre Belange selbst zu entscheiden und sich übergeordneten Prinzipien, seien es wissenschaftliche Erkenntnisse, ärztliche und pflegerische Anordnungen oder deontologische Sichtweisen, zu verweigern. Mit dieser Definition wird die sich im Alltag ohnehin bereits herauskristallisierende zugewandte Haltung der Pflegenden in der Palliativpflege bestätigt, fordern die Begegnungen mit sterbenden Menschen doch dazu heraus, aufmerksam, hellhörig und mitfühlend auf ihre Bedürfnisse einzugehen. So tritt neben die professionelle Pflege des Körpers die Fähigkeit, aktiv zuzuhören, die bildhafte Sprache Sterbender zu verstehen und offen zu sein für nonverbale Mitteilungen.

Das gilt auch dann, wenn schwerstkranke Menschen den Wunsch äußern, den Sterbevorgang zu beschleunigen. Einen solchen Wunsch zu überhören oder als ungerechtfertigt zu verurteilen, ist mit einer wertschätzenden Haltung, wie sie der Intention der Palliative Care entspricht, nicht vereinbar. Vielmehr muss der Pflegende einen solchen Wunsch des Patienten zur Grundlage eines Gesprächs machen, in dem dieser seine Gefühle darlegen kann und in dem auch zu klären ist, ob der Wunsch durch vermehrte Aufmerksamkeit und Zuwendung wenn nicht aufgehoben, so doch besänftigt werden kann. Eigenen religiösen oder ethisch begründeten Vorbehalten bezüglich eines solchen Wunsches sollte nicht nachgegeben, sondern diese sollten im Team besprochen werden.

Mit der zunehmenden Verantwortung weitete sich der Handlungs- und Entscheidungsraum in der Palliativpflege immer mehr aus, inbsbesondere dann, wenn von medizinischer Seite aus eine weitere kurative Behandlung nicht mehr möglich ist. Fachkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz, Empathie und Menschlichkeit sind dann wichtige Voraussetzungen, um den entstandenen Raum aufzufüllen.

Dem Wissen um die Notwendigkeit einer solchen Kompetenzvielfalt ging voraus, dass sich zeitgleich mit den Anfängen der Palliativversorgung auch das Berufsverständnis der professionell Pflegenden veränderte: von einem untergeordneten und Weisungen empfangenden Dienstleistenden hin zum gleichwertigen Mitarbeiter in der interprofessionellen Zusammenarbeit auf Palliativstationen und im SAPV-Team. Denn nur die Kooperation der unterschiedlichen Berufsgruppen und Fachdisziplinen auf Augenhöhe können zu dem Ziel führen, die Lebensqualität der Patienten „bis zuletzt zu verbessern und die Symptomlast jedes Einzelnen zu verringern“. [10]

Mod. nach Quelle 11

Die Zukunft der Palliativpflege

Patientenautonomie, d. h. über die eigenen Belange bis zuletzt selbst zu entscheiden, und die Möglichkeit, eine Patientenverfügung abfassen und damit auf medizinische Behandlungen verzichten zu können, die über Symptombehandlung und Schmerzlinderung hinausgehen, werden dazu führen, dass mehr schwerkranke Menschen als bisher auf ihrem Wunsch bestehen werden, zu Hause zu sterben. Ein Ausbau der SAPV-Teams und ein Ausbau der palliativen Pflege werden damit unumgänglich sein.

[1] Chabot B; Walther C; Ausweg am Lebensende Sterbefasten – Selbstbestimmtes Sterben durch Verzicht auf Essen und Trinken, Reinhardt Verlag, München/Basel, S. 147
[2] Feichtner A; Palliativpflege für Pflege- und andere Gesundheitsberufe, Facultas Verlag, Wien 2018; S. 27
[3] Alt-Epping B; Nauck, 2017; 50(12): 901; doi.org/10.1007/s00129-017-4146-8
[4] Godzik, P; Die Hospizbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Dokumentation in: Lutherisches Kirchenamt (Hrsg.)Texte aus der VELKD Hrsg., Hannover 1992; 47: 17; www.pkgodzik.de/fileadmin/user_upload/Hospiz_und_Sterbebegleitung/Hospizbewegung_in_der_BRD.pdf (S. 17); (Stand: 27.12.2019)
[5] Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. (o. J.): Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV); www.dhpv.de/themen_sapv.html (Stand: 27.12.2019)
[6] Müller, Berufsverständnis, in: Büker C et al., (Hrsg.): Moderne Pflege heute. Beruf und Profession zeitgemäß verstehen und leben. Hrsg. Büker C et al., Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2018; 81–102: 87
[7] Böhme, G. Ethik leiblicher Existenz, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008; 119
[8] Alt-Epping B; Nauck F; Allgemeine Aspekte der Palliativmedizin 2017; 50(12): 901–905; doi.org/10.1007/s00129-017-4146-8 (Stand: 05.01.2020)
[9] Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: Erweiterte S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung, Langversion 2.0 – August 2019; S. 105 www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/ (Stand: 08.01.2020)
[10] Bock S et al., Palliative Pflege onkologischer Patienten am Lebensende, in: Forum 33, Springer Medizin Verlag 2018; 35; doi.org/10.1007/s12312-017-0368-x; (Stand: 27.12.2019)
[11.] Deutscher Pflegerat; Pflege in Deutschland k.J.; //deutscher-pflegerat.de/dev/fakten-forderungen.php, (Stand 23.01.2020)

Bildnachweis: theseamuss, Thoth_Adan (iStockphoto)

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