Die Verschreibung von ADHS-Medikamenten ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark angestiegen, u. a. aufgrund erweiterter Diagnosekriterien und eines gestiegenen Bewusstseins für ADHS. Eine aktuelle Studie des schwedischen Karolinska Institutet untersuchte, ob sich die assoziierten protektiven Effekte auf schwerwiegende Outcomes mit zunehmender Verschreibungsrate verändert haben. Die Ergebnisse zeigen, dass ADHS-Medikamente zwar weiterhin das Risiko von Selbstverletzungen, unbeabsichtigten Verletzungen, Verkehrsunfällen und kriminellem Verhalten reduzieren, ihre schützende Wirkung jedoch mit der Zeit abgenommen hat.
In die Studie wurden 247.420 ADHS-Medikamenten-Nutzer und -Nutzerinnen in Schweden (2006-2020) einbezogen. Um die Zusammenhänge zwischen ADHS-Medikamenten und schwerwiegenden Folgen wie Selbstverletzungen, unbeabsichtigten Verletzungen, Verkehrsunfällen und Kriminalität, zu untersuchen, verwendeten die Forscher und Forscherinnen ein selbstkontrolliertes Fallstudiendesign. Hierbei werden die Risiken/das Outcome von ein und derselben Person verglichen – mit und ohne Einnahme von ADHS-Medikamenten. Wichtig ist, dass die Forscher diese Risiken auch über drei Zeiträume hinweg verglichen: 2006-2010, 2011-2015 und 2016-2020. Ein Zeitraum, in dem der Einsatz von ADHS-Medikamenten in Schweden von 0,6 % auf 2,8 % der Bevölkerung anstieg.
„Wir stellten fest, dass der Medikamentengebrauch während des 15-jährigen Beobachtungszeitraums durchgängig mit einem geringeren Risiko für Selbstverletzungen, unbeabsichtigte Verletzungen, Verkehrsunfälle und Kriminalität verbunden war“, sagt Erstautorin der Studie, Lin Li, Postdoktorandin am Institut für Medizinische Epidemiologie und Biostatistik des Karolinska Institutet. „Die Stärke dieser Schutzeffekte nahm jedoch im Laufe der Zeit ab, was mit einem starken Anstieg der Verschreibungsraten in der Gesellschaft einherging.“
Insgesamt zeigte sich eine konsistente Risikoreduktion: ADHS-Medikamente waren durchgehend mit signifikant niedrigeren Raten aller Outcomes assoziiert (z. B. Selbstverletzungen: IRR 0,77-0,85; Kriminalität: IRR 0,73-0,84). Allerdings nahm die Effektstärke über die Zeit ab. In signifikantem Umfang bei unbeabsichtigten Verletzungen (p < 0,01), Verkehrsunfällen (p < 0,01) und Kriminalität (p < 0,01). Bei dem Outcome-Parameter Selbstverletzung zeigte sich hingegen kein signifikanter Trend (p = 0,58).
Veränderungen in der Patientenpopulation
Eine mögliche Ursache könnten Veränderungen bei den Patientengruppen mit ADHS-Medikation sein: Mit dem wachsenden Bewusstsein für ADHS und der Erweiterung der Diagnosekriterien hat sich auch die behandelte Patientenpopulation verändert, wie die Forscher vermuten, was die im Laufe der Zeit nachlassende Wirkung von ADHS-Medikamenten auf Veränderungen in der Behandlungsgruppe erklären könnte (mehr Erwachsene, Frauen, ggf. mildere Symptomatik). Bemerkenswerterweise war der Anstieg der Verschreibungen bei Erwachsenen und Frauen besonders ausgeprägt. Diese Veränderungen könnten teilweise erklären, warum der durchschnittliche Nutzen von ADHS-Medikamenten im Laufe der Zeit abgenommen hat. Sensitivitätsanalysen zeigten allerdings, dass demografische Verschiebungen (Alter/Geschlecht) die Trends nicht vollständig erklären.
„Das bedeutet nicht, dass die Medikamente nicht mehr wirksam sind“, sagt Prof. Dr. Zheng Chang, leitender Forscher an derselben Abteilung und Letztautor der Studie. „Aber es deutet darauf hin, dass wir angesichts der Veränderungen in der Patientenpopulation im Vergleich zu vor 10 oder 20 Jahren die klinischen Leitlinien überprüfen und die Behandlungseffekte auf individueller Ebene verstehen müssen, um klinische Entscheidungen besser zu unterstützen.“
Hinweis: Das Beobachtungsdesign der Studie erlaubt keine kausalen Schlüsse. Verschiedenste Confounder sind möglich (z. B. Adhärenz, Lifestyle-Faktoren). Ob die auf schwedischen Daten beruhenden Ergebnisse auf andere Gesundheitssysteme übertragbar sind, ist unklar.
Pressemitteilung „ADHD medication benefits persist – but not like they used to“. Karolinska Institut, Stockholm, 25.6.2025 (https://news.ki.se/adhd-medication-benefits-persist-but-not-like-they-used-to).
* Li L et al.: Increased Prescribing of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Medication and Real-World Outcomes Over Time. JAMA Psychiatry. 2025 Jun 25:e251281 (DOI 10.1001/jamapsychiatry.2025.1281).