Die Frage, ob die menschliche Lebensspanne eine natürliche Obergrenze besitzt, ist Gegenstand intensiver Forschung. Die Antwort hat nicht nur medizinische Implikationen, sondern auch gesellschaftliche. Im Folgenden wird der aktuelle Wissensstand zusammengefasst.
Die Lebenserwartung bei Geburt lag vor dem 19. Jahrhundert weltweit zwischen 20 und 50 Jahren, bevor sie durch Fortschritte in der Infektiologie, der Ernährungswissenschaft und der medizinischen Versorgung rapide anstieg. Im 20. Jahrhundert wurde eine durchschnittliche Zunahme der Lebenserwartung um 3 Jahre pro Dekade beobachtet. Gibt es eine Obergrenze?
Wenn man über Lebenserwartung spricht, muss man eine Frau nennen, die hier eine Marke gesetzt hat: Jeanne Calment. Sie starb am 4. August 1997 mit 122 Jahren und 164 Tagen (44 724 Tagen), der bis heute längsten validierten Lebensspanne. Und seitdem ist niemand älter geworden – sie ist also immer noch das „Postergirl“ der Longevity-Medizin.
Das ist deshalb bemerkenswert, weil die durchschnittliche Lebenserwartung immer weiter steigt. Aber die maximale Lebenserwartung hat sich in den vergangenen 28 Jahren nicht weiter erhöht. Die genannten 122 Jahre scheinen also die biologische Obergrenze zu sein, die wir erreichen können, was wahrscheinlich nur wenige schaffen werden.
Healthspan vs. Lifespan
Beim Altern geht es nicht nur darum, dem Leben Jahre hinzuzufügen – es geht darum, sicherzustellen, dass diese Jahre mit Vitalität, Unabhängigkeit und Freiheit von chronischen Krankheiten gefüllt sind. Die Lebenserwartung (Lifespan) misst die Gesamtzahl der Jahre, die wir leben, sagt aber nichts über die Lebensqualität aus. Die Gesundheitsspanne (Healthspan) bezieht sich dagegen auf die Zeitspanne im Leben, die frei von chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder erheblichem körperlichen Verfall bleibt (Abb.). Eine Studie auf Basis von WHO-Daten von 2000 bis 2019 ergab eine Zunahme der Lebenserwartung von 79,2 auf 80,7 Jahre bei Frauen und von 74,1 auf 76,3 Jahre bei Männern [1]. Die Studie deckte jedoch auch einen besorgniserregenden Trend auf: Die Kluft zwischen Lebenserwartung und Gesundheitsspanne vergrößerte sich um 13 % und erreichte einen Durchschnitt von 9,6 Jahren. Das bedeutet: Während die Lebenserwartung weiter steigt, werden viele dieser zusätzlichen Jahre oft bei schlechter Gesundheit verbracht.
Ein zentrales Problem bei der Verlängerung der Lebenserwartung ist die notwendige Reduktion der Sterblichkeitsraten in allen Altersgruppen. Eine Verlängerung der Lebenserwartung um nur ein weiteres Jahr erfordert mittlerweile eine Reduktion der Gesamtmortalität um 20,3 % bei Frauen und 9,5 % bei Männern [2]. Die Sterbewahrscheinlichkeit im hohen Alter kann trotz medizinischer Fortschritte nur noch begrenzt gesenkt werden.
Während die Lebenserwartung weiter steigt, werden die zusätzlichen Jahre oft bei schlechter Gesundheit verbracht.
Im Zuge der präventiven Medizin sind – wie bereits erwähnt – 120 Jahre wohl die Obergrenze. Eine bedeutende Erhöhung der maximalen Lebensspanne wäre nur durch eine drastische Verlangsamung der biologischen Alterungsprozesse möglich. Dazu müssten wir regenerative Techniken weiterentwickeln, z. B. Stammzelltechnologie oder epigenetische Reprogrammierung. David Sinclair geht davon aus, dass in 30 Jahren die maximale Lebenserwartung bereits deutlich steigen wird [3]. Ich habe aber meine Zweifel, ob dies so schnell funktionieren wird.
Gesünder alt werden
Die wachsende Kluft zwischen Lebenserwartung und Gesundheitsspanne zeigt: Unsere Fokussierung sollte nicht oder zumindest nicht nur auf der Verlängerung des Lebens liegen, sondern auch auf der Verbesserung der Lebensqualität dieser Jahre. Es ist von entscheidender Bedeutung, sicherzustellen, dass ein längeres Leben auch ein gesünderes Leben ist.
Wenn die maximale Lebenserwartung bei 120 Jahren liegt, die durchschnittliche Lebenserwartung jetzt aber bei 80 Jahren liegt, ist noch Luft nach oben. Was aktuell deutlich ansteigt, ist die Zahl der 100-Jährigen – 100, eine durchaus realistische Lebenserwartung. In den Ländern mit dem höchsten Durchschnittsalter liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum 100. Lebensjahr für Frauen bei etwa 5,1 % und für Männer bei 1,8 %. In Hongkong, dem Land mit der höchsten Überlebensrate, erreichen 12,8 % der Frauen und 4,4 % der Männer das 100. Lebensjahr [2]. Um das zu erreichen, muss man offensichtlich auch Glück haben: gute Gene und am besten eine Frau sein.
Aktuell haben wir die Situation, dass statistisch fast das komplette letzte Jahrzehnt eines Menschen geprägt ist durch Krankheiten, Behinderungen und Einschränkung der Lebensqualität. Und um das zu verbessern, brauchen wir weder Stammzellen noch epigenetische Reprogrammierung. Hier geht es vielmehr um Lebensstil: Ernährung und Bewegung werden natürlich immer wieder diskutiert und sind ohne Frage entscheidend für gesundes Altern.
Bei der Ernährung gibt es den quantitativen und den qualitativen Effekt. Kalorienrestriktion gilt bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts als gesichert lebensverlängernde Maßnahme. Auf molekularer Ebene spielen dabei Sirtuine eine Rolle, die zahlreiche Reparaturfunktionen ausüben. Dazu gehört die Beseitigung von Schäden des Genoms und Epigenoms sowie der Abtransport molekularen Mülls aus den Zellen (Autophagie).
Neben der Sirtuinaktivierung bewirkt die Kalorienrestriktion noch weitere Modulationen der Signalwege der Energieversorgung, die sich offensichtlich ebenfalls lebensverlängernd auswirken. Dazu gehören die Absenkung von Wachstumsfaktoren wie dem „insulin like growth factor 1“ (IGF1), die Stimulierung der AMP-aktivierten Proteinkinase (AMPK) und die Blockade des „mechanistic target of rapamycin“(mTOR)-Signalweges. Letztendlich sind all diese unterschiedlichen Mechanismen Reaktionen des Zellmetabolismus auf das Signal „Hungerstress“ [4].
Qualitative Ernährungsstrategien für ein gesundes Altern umfassen:
Durch eine Kombination aus gesunder Ernährung, Bewegung und gezielter Mikronährstoffzufuhr können altersbedingte Erkrankungen verzögert oder verhindert werden [5].
In den vergangenen Jahren ist zudem das Thema Schlaf wichtiger geworden [6]. Lange Zeit war es en vogue, dass erfolgreiche Menschen wenig schlafen. Das hat sich geändert. Früher hieß es: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“ Heute wissen wir, wer wenig schläft, ist früher tot. Schlaf ist wichtig, Entspannungstechniken sind es auch. Wir müssen schauen, dass wir unsere Akkus effektiv wieder aufladen.
Und eine ganz entscheidende Sache ist das Mindset: Wie gehe ich an das Thema Altern heran? Es gibt immer noch viele Menschen, die sich auf ihren 65. oder 66. Geburtstag freuen, weil sie dann in Rente gehen können und sagen: So, jetzt fängt das Leben an. Aber wenn das heißt, ich tue nichts mehr und verbringe meine Zeit im Liegestuhl auf Mallorca, dann kann man zusehen, wie die Synapsen abbauen. Es ist wichtig, aktiv zu bleiben – ob das im eigenen Beruf ist oder ob man sich eine andere Aufgabe sucht, ist dann eher zweitrangig.
Tatsächlich sind alle gesicherten Optionen für „gesundes Altern“ mit dem Lebensstil assoziiert. Das kann wirklich jeder machen, ohne dass es dazu einer bestimmten Diagnostik bedarf oder dass man viel Geld in die Hand nehmen muss. Was nachweislich im Bereich Longevity gut wirkt, kostet quasi kein Geld. Fasten spart Geld, nicht rauchen spart Geld und Sportschuhe anziehen und loslaufen kostet auch kaum etwas. Dieses Image, Longevity sei ein Oberschichtenprojekt, stimmt einfach nicht.
Wie fix ist die Altersgrenze auf lange Sicht?
Dass wirksame Lebensstiländerungen wenig bis gar nichts kosten, ist eine gute Botschaft, die man gar nicht genug herausheben kann. Der Hype im Silicon Valley und anderswo ist groß, Wege zu finden, mit denen man an dieser 120er-Grenze vielleicht doch noch ein wenig rütteln kann. So ist Sinclair fixiert auf das Thema Epigenetik und die unterschiedlichen Alterungsfaktoren, das „epigenetische Rauschen“.
Was tatsächlich wirkt, kostet wenig bis gar nichts.
Das ist auch die Grundlage für die epigenetischen Altersuhren, die in der Diagnostik schon eine große Rolle spielen. Im Mausmodell gibt es bereits die ersten epigenetischen Reprogrammierungen: blinde Mäuse, die so reprogrammiert wurden, dass sie wieder sehen konnten. Eine geradezu biblische Geschichte: Blinde werden wieder sehend. Wenn solche Ansätze irgendwann einmal in die Klinik übertragbar sind, ist das einer der entscheidenden Schritte von der präventiven zur regenerativen Medizin.
Auch die schon seit Langem beforschten Stammzelltechnologien werden sich weiter etablieren – sie sind ein Hoffnungsträger der Anti-Aging-Medizin. Mittlerweile weiß man, dass man ausdifferenzierte Körperzellen wieder reprogrammieren kann. Dabei geht man nicht zurück bis zu den omnipotenten Stammzellen, sondern reprogrammiert Körperzellen zu pluripotenten Stammzellen für bestimmte Aufgaben.
Diese Technologien stecken noch in den Kinderschuhen, sind aber auch längst nicht mehr reine Fantasie. Es dauert immer sehr lange, bis Entwicklungen aus dem Labor in der Klinik ankommen.
Und sind die Technologien dann endlich klinisch etabliert, ist es immer noch ein zusätzlicher schwieriger Schritt in den Longevity-Bereich. Herausforderung: Zu den Fragen der Longevity-Medizin lassen sich keine vernünftigen Studien aufsetzen. Alter ist immer noch nicht im ICD-Schlüssel als Krankheit aufgenommen. Und wenn die FDA sagt, Alter sei keine Krankheit, dann bekommt man diesbezüglich auch keine Studien genehmigt. So müssen Endpunkte gegen bestimmte Alterserkrankungen definiert werden – was den Erkenntnisgewinn einschränkt.
Bei allem Hype um die Longevity-Medizin – die ich voll unterstütze – werden wir in den nächsten Jahren wahrscheinlich auch viele Enttäuschungen erleben. Wo ein Hype ist, sind die Erwartungen hoch und Frustrationen aus ihrer Nichterfüllung wahrscheinlich. Aktuell arbeiten rund 350 Biotech-Firmen daran, Therapeutika gegen das Alter zu entwickeln. Und keine dieser Firmen hat bisher ein Produkt auf den Markt gebracht.
Was wir haben, sind Supplemente, die es schon immer gab. Auch Medikamente wie Metformin, Rapamycin oder GLP-1-Analoga werden manchmal in diesem Zusammenhang genannt. Aber auch das sind keine spezifischen Anti-Aging-Medikamente, sondern Repurposed Drugs, also bekannte Medikamente, die jetzt eine neue Indikation finden. Auf die Senolytika, die uns seit Jahren angekündigt werden, warten wir dagegen noch immer.
In gewissem Sinne ist es aktuell wie im Wilden Westen. Da werden manchmal Stammzelltherapien angeboten, die eigentlich gar keine Stammzellen enthalten. Und in so ganz obskuren Gebieten wie Panama entstehen angeblich spezialisierte Kliniken. Das klingt irgendwie wenig vertrauenswürdig, wenn ich für eine Therapie in ein weit entferntes Land fliegen muss, das nicht unbedingt zu den arrivierten Ländern der Medizin gehört.
Statt schnelle Erfolge zu erwarten, muss man Longevity wirklich langfristig sehen. Selbst Stammzellen, die vielversprechender sind als viele andere Technologien, sollte man nicht zu schnell promoten. Wenn eine solche Therapie irgendwann die ersten Krebsfälle verursacht, kann das die Entwicklung um Jahre zurückwerfen, wenn nicht um Jahrzehnte. Wir müssen der Longevity-Medizin Zeit geben und dürfen nicht zu viel in zu kurzer Zeit erwarten. Sonst sind die Enttäuschungen vorprogrammiert.
Der Autor
Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk
Metropol Medical Center Nürnberg
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin (GSAAM)
Bildnachweis: privat