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Allgemeinmedizin

Akute idiopathische Polyneuritis

Bei Verdacht auf Guillain-Barré-Syndrom sofort in die Klinik

Dr. med. Bianca Bach

21.1.2022

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine klinisch heterogene, immunvermittelte, meist postinfektiöse akut entzündliche Polyradikuloneuropathie. Sie kann rasch fortschreiten und langfristig die Lebensqualität beeinträchtigen. Liegt ein Verdacht vor, heißt es: schnell handeln!

Die jährliche GBS-Inzidenz liegt bei etwa 1–2/100 000 Einwohnern (> Seltene Erkrankungen). Sie nimmt mit jeder Le­bensdekade um etwa 20 % zu und betrifft etwas öfter Männer [1].

Das GBS ist die häufigste Ursache akuter schlaffer Paresen. Meist getriggert durch einen vorangegangenen Infekt, wie eine Durchfallerkrankung, entzünden sich periphere Nerven und Nervenwurzeln. Bei der klassischen Variante führt das zu aufsteigenden sensomotorischen Ausfällen und Reizerscheinungen. Hirnnerven und vegetatives Nervensystem können miteinbezogen werden. Um Betroffene bei lebensbedrohlichen Akutkomplikationen wie Atemversagen oder Herzrhythmusstörungen angemessen behandeln zu können, sollte man sie bei GBS-Verdacht umgehend in eine Klinik mit intensivmedizinischer Überwachungsmöglichkeit einweisen. Je nach Ausmaß der Nervenschä­digung kann die Erholung mitunter Jahre dauern (> Neurologie).


Muskelschwäche und Gefühlsstörungen

2019 hat ein internationales Expertenteam evidenz- und konsensusbasierte Leitlinien für den klinischen Alltag erarbeitet [2]. GBS-verdächtig ist demnach eine rasch fortschreitende Muskelschwäche, vor allem in den Beinen, die bei der klassischen sensomotorischen Form von distalen Parästhesien oder Taubheitsgefühlen begleitet wird. Hinzukommen abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe, häufig muskuläre, radikuläre oder neuropathische Schmerzen und autonome Funktionsstörungen wie Brady- sowie Tachykardien und Blutdruckschwankungen. Ein Hirnnervenbefall kann sich mit Fazialisparese, Augenmuskellähmungen, Schluckstörungen oder verwaschener Sprache äußern. Atypische Manifestationen oder seltenere Varianten erschweren die Früherkennung. Meist erreichen die Symptome nach zwei Wochen ein Maximum und bleiben dann für Tage, Wochen oder Monate auf einem Plateau, bis eine Erholung einsetzt.

Bei etwa zwei Drittel der Patienten lässt sich eine wenige Wochen zurückliegende Infektion eruieren. Sie führt wahrscheinlich über eine molekulare ­Mimikry dazu, dass das Immunsystem fehlgeleitet wird und das periphere Nervensystem angreift [3].

Triggerfaktoren

Häufigster Trigger ist Campylobacter jejuni. Weitere sind CMV, EBV, Hepatitis E- und Zika-Virus sowie Mycoplasma pneumoniae. Die Rolle anderer Pathogene ist unklar. Das gilt auch für SARS-CoV-2. Wegen dessen Neurotropismus wurden bei COVID-19 viele neurologische Beteiligungen beobachtet – auch Fälle von GBS und Miller-Fisher-Syndrom (MFS)­ [4-6]. Ein Kausalzusammenhang konnte bis dato nicht gesichert werden [7].

Kausalzusammenhang zwischen SARS-CoV-2 und Guillain-Barré-Syndrom nicht belegt

Ähnlich ist es bei SARS-CoV-2-Impfungen, die ebenfalls als seltener GBS-Trigger in Verdacht geraten sind. Die europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zählte im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung bis Ende Mai 2021 156 GBS-Fälle bei etwa 40 Millionen verimpften AstraZeneca-Vakzine-Dosen [8] und für den Vektorimpfstoff von Janssen bis Ende Juni 2021 weltweit 108 GBS-Fälle nach Impfung von 21 Millionen Menschen [9].

Neben Impfstoffen – die überzeugendsten Daten liegen für den Schweinegrippe-Impfstoff von 1976 vor – werden unter anderem Tumornekrosefaktor-alpha- und Immuncheckpoint-Inhibitoren als mögliche Auslöser diskutiert.


Klinische Diagnosestellung

Die Diagnose beruht auf Anamnese und klinisch-neurologischer Untersuchung, unterstützt von Liquor- und elektrophysiologischen Untersuchungen. Typisch im Liquor ist eine zytoalbuminäre Dissoziation: Eiweiß ist erhöht, die Leukozytenzahl nicht. Normale Liquor-Eiweißspiegel schließen ein GBS nicht aus, auch nicht fehlende Anti-Gangliosid-Autoantikörper im Blut.

Labortests, auch serologische Untersuchungen auf mögliche infektiöse Trigger, können, wie auch die Magnetresonanztomografie, zusätzliche Hinweise liefern. In erster Linie dienen sie dazu, Differenzialdiagnosen abzugrenzen – etwa Infektionen, Stoffwechselstörungen oder Elektrolytstörungen als Ursachen der Lähmungen.

GBS-Patienten muss man engmaschig überwachen. Ihr Zustand kann sich binnen Stunden verschlechtern. Schnell entsteht dann eine Notfallsituation mit ausgeprägter Paralyse, Atemversagen und kardiovaskulären Funktionsstörungen. Bis zu 22 % werden innerhalb der ersten Krankheitswoche ­beatmungspflichtig.

Bei schweren Symptomen, raschem Progress oder, wenn jemand keine 5–10 Meter mehr selbstständig gehen kann, sind intravenöse Immunglobuline (IVIG) oder eine Plasmapherese indiziert. Beide sind gleichwertig, aber IVIG sind leichter zu verabreichen und besser verfügbar. Glukokortikoide sind ohne klinischen Nutzen und können die Erholung sogar behindern.


Reha enorm wichtig

Selbst bei bestmöglicher Therapie sterben 3–10 % der GBS-Patienten, auch noch in der Erholungsphase. Andererseits können nach sechs Monaten 60–80 % wieder selbstständig gehen. Patienten über die relativ guten Erholungsaussichten und das mit 2–5 % niedrige Rezidivrisiko aufzuklären, beugt Angststörungen oder Depressionen vor. Denn die Akutsymptomatik, häufig aus voller Gesundheit, erleben die Menschen oft als traumatisch.

Eine Rehabilitation mit Physio-, Ergotherapie und gegebenenfalls Logopädie ist wichtig. Überlastungen sind zu vermeiden. Ein abgestuftes Trainingsprogramm wirkt sich auch günstig auf eine Fatigue aus. Diese belastende GBS-Folge betrifft 60–80 % der Patienten. Gegebenenfalls sollte psychologische Hilfe angeboten werden. Zudem benötigen viele Patienten Schmerzmittel. Mindestens ein Drittel klagt nach einem Jahr noch über starke Schmerzen. Diese können über zehn Jahre hinaus anhalten.

1) Sejvar JJ et al., Neuroepidemiology 2011; 36: 123–133
2) Leonhard SE et al., Nat Rev Neurol 2019; 15: 671–683
3) Liu S et al., Immunother 2018; 14: 2568–2579
4) Zhao H et al., Lancet Neurol 2020; 19: 383–384
5) Toscano G et al., N Engl J Med 2020; 382: 2574–2576
6) Gutiérrez-Ortiz C et al., Neurology 2020; 95: e601–e605
7) Keddie S et al., Brain 2021; 144: 682–693
8) EMA: COVID-19 vaccine safety update, 18.06.2021
9) Pressemitteilung EMA, 22.07.2021

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