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Orthopädie

Bandscheibenvorfall

Warum Schmerzen behandelt werden müssen – und nicht Bilder

Dr. med. Martin Marianowicz

Würde man sich die Kernspinbilder der Wirbelsäulen aller Deutschen im Alter 50plus ansehen, müsste man unweigerlich zu der Erkenntnis gelangen, dass man es ausnahmslos mit Schmerzpatienten zu tun hat. Man sähe zu enge Spinalkanäle und nahezu überall degenerierte Wirbelkörper. In einem Anamnesegespräch würden aber dennoch etwa die Hälfte eben dieser Personen sagen, dass sie keine oder kaum Schmerzen haben, die sie im Alltag beeinträchtigen.

Es ist dieses einfache Bild, welches das Paradoxum in der Behandlung von Bandscheibenvorfällen beschreibt. Wir Orthopäden müssen bei Rückenpatienten am Ende immer Schmerzempfinden behandeln, keine Bilder, weshalb eine äußerst intensive Auseinandersetzung mit deren Leidensgeschichte, Lebensführung, Gewohnheiten, aber auch mit der Psyche eine Grundvoraussetzung für den Behandlungserfolg ist. Oftmals ist es aber genau umgekehrt und MRT- sowie Röntgenbilder werden zur einzigen Grundlage der Therapie herangezogen. Umso dramatischer ist dies, weil es für 60 % aller chronischen Rückenschmerzen keine fundierte Diagnose gibt und die als unspezifisch gelten. Wer Rückenleiden und besonders Vorfälle im Hals- (HWS) und Lendenwirbelbereich (LWS) erfolgreich therapieren will, muss vor allem eines tun: den Patienten so wirkungsvoll wie möglich durch die Phase des akuten Schmerzes zu begleiten. Was heilt hat Recht – ich empfehle Kollegen deshalb das Vorgehen nach einem Stufenmodell, bei dem eine Operation immer die letzte aller möglichen Optionen ist. Bandscheibenvorfälle (Prolaps [BSP]/Diskushernie) sind eine „gesunde“ Erkrankung, die weder lebensbedrohlich ist noch die Lebenserwartung der Betroffenen verkürzt. Der Arzt sollte auch in diese Richtung aktiv Bewusstseinsbildung betreiben und den Patienten nicht nur physisch therapieren, sondern auch psychisch auf den Therapieprozess einstellen sowie alle individuellen Faktoren in Betracht ziehen: Ist er übergewichtig, bewegt er sich regelmäßig, versorgt er seinen Bewegungsapparat mit wichtigen Nährstoffen, hat er Stress oder gar private bzw. berufliche Probleme?


Wirkungsvolles Schmerzmanagement

Was sich ein Arzt bei der Therapie des Prolaps immer wieder vor Augen führen muss, ist, dass der Großteil aller Bandscheibenvorfälle – in Fachkreisen wird von einer Quote von rund 90 % gesprochen – innerhalb von sechs bis maximal zwölf Wochen vollständig abheilt. Der Körper arrangiert sich in dieser Zeit buchstäblich. Physiologisch betrachtet ist ein Band­scheibenvorfall nämlich eine Degeneration der Wirbelsäule. Die Symptomatik reicht vom klassischen Schmerz über Taubheitsgefühle bis hin zu Lähmungserscheinungen. Der Vorfall stellt dabei die „Eskalation“ einer degenerativen Veränderung dar, die über lange Zeit vom Körper kompensiert wurde. Auslöser sind dann meist kurzfristige extreme Belastungen, schnelle Bewegungen oder stress- oder haltungsbedingte Verspannungen. Bei der Therapie muss es dem behandelnden Arzt immer einzig darum gehen, den Schmerz des Patienten über die Zeit bis zur Ausheilung zu „managen“, und zwar bestmöglich im Einklang mit dessen Lebensumständen.


Spezifische Symptomatik bei lumbalen und zervikalen Vorfällen

Besonders schmerzhaft und anteilsmäßig am häufigsten vertreten ist der Bandscheibenvorfall im Bereich der LWS (lumbaler Vorfall). Er tritt meist zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel oder noch tiefer zwischen dem 5. Lendenwirbel und dem 1. Steißwirbel auf. Die typischen Symptome sind stechende Schmerzen im unteren Rücken, die meist auch bis in die Beine, Füße oder ins Gesäß ausstrahlen. Dabei kann es auch zu „Kribbeln“ und Taubheitsgefühlen in Beinen und Füßen kommen, in extremen Fällen aber auch zu Lähmungserscheinungen oder, in seltenen Fällen, Beeinträchtigungen beim Wasserlassen bzw. Stuhlgang. Deutlich seltener ist die zervikale Diskushernie (20 %), also der Vorfall in der HWS. Patienten klagen hier besonders über Schmerzen im Bereich des Nackens. Diese können dabei auch in den Hinterkopf ausstrahlen und Schmerzen, „Kribbel-“, Taubheits- oder Kältegefühle in den oberen Extremitäten hervorrufen. Die Komplexität in der Diagnostik und Lokalisierung der Schmerzen zeigt sich vor allem darin, dass der „Ort“ des Schmerzes oft nicht dessen Ursache ist. Typische Risikogruppen stellen im Fall zervikaler Vorfälle vor allem klassische Büroarbeiter dar, bei denen neben haltungsbedingten Fehlbelas­tungen auch Stress den Alltag bestimmen. Bei lumbalen Vorfällen sind vor allem übergewichtige Personen in der Altersgruppe 50plus betroffen – gerade dann, wenn sie sich zu wenig bewegen und ihre LWS durch Fehlhaltungen falsch beanspruchen.


Diskushernie als Folge des Lebenswandels

Um zu verstehen, warum der Bandscheibenvorfall so stark verbreitet ist, muss man sich nur vor Augen führen, dass unsere Vorfahren täglich 15 bis 20 km zu Fuß zurückgelegt haben. Heute sind es unterschiedlichen Studien zufolge – je nach Berufsbild – gerade einmal 0,5 bis maximal 5 km. Da Bewegung in Verbindung mit einer gesunden Ernährung die Basis für eine dauerhafte Versorgung des Knorpels mit wichtigen Nährstoffen ist – Glucosaminsulfat, Chondroitinsulfat, Kollagenhydrolysat und Hyaluronsäure sind seine wichtigsten Bausteine –, ist die Gesundheit unserer Wirbel allein durch unseren Lebenswandel stark bedroht. Hinzu kommen Übergewicht, haltungsbedingte Beeinträchtigungen und nicht zuletzt das gestiegene Lebensalter, das wir in westlichen Gesellschaften heute erreichen.


US-Studie widerlegt Korrelation von Bild und Schmerz

Dass mit zunehmenden Alter die Degeneration von Bandscheiben zwar linear zunimmt, aber dies nicht unweigerlich zu Schmerzsymptomen führt, zeigt eine Studie der Harvard-Universität. Demnach leiden in der Altersgruppe der 70- bis 80-Jährigen 93 % der schmerzfreien Männer und Frauen unter degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, in der Altersgruppe der 40- bis 59-Jährigen sind es 59 % und selbst bei den bis 39-Jährigen weisen Kernspinbilder noch bei 34 % Veränderungen auf. In Deutschland werden mittlerweile über 750.000 Eingriffe am Rücken vorgenommen, davon etwa 230.000 Bandscheiben-Operationen. Aus meiner Sicht deutlich zu viele, unnötigerweise und mit ungewissem Ausgang. Die Hälfte dieser Operationen sind erfolglos. Narbenbildung im Rückenmarkskanal gehört zu den häufigsten Komplikationen, mehr als 20 % aller Eingriffe enden in der Berufsunfähigkeit. Selbst leichte Lähmungserscheinungen müssen kein Grund für eine Operation sein. Häufig sind sie, ebenso wie Gefühlsstörungen, durch einen schwellungsbedingten Leitungsblock der Nerven verursacht, der sich von selbst wieder zurückbildet. Nur wenn Nervengewebe nachhaltig geschädigt wird, sollte operiert werden. Die Notwendigkeit dafür kann aber zweifelsfrei durch neurologische Verfahren wie Elektromyografie erschlossen werden.

Die Komplexität in der Diagnostik und Lokalisierung der Schmerzen zeigt sich vor allem darin, dass der ‚Ort‘ des Schmerzes oft nicht dessen Ursache ist.


Stufenplan der Schmerztherapie

Entscheidend für die Wahl der wirkungsvollsten und für den Patienten geeignetsten Therapie ist ausschließlich der Grad des Schmerzes. Röntgen- und Kernspinbilder sind nicht aussagekräftig genug. Bei der Wahl der Therapie sollte der Arzt den Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10 kategorisieren, bei der 0 mit Schmerzfreiheit gleichzusetzen ist und 10 mit kaum erträglichem Leid. Ich persönlich gehe nach einem Stufenplan vor, der konservative und minimalinvasive Therapien vorsieht und generell in der geringstmöglichen Behandlungsstufe beginnt. Bei Schmerzen geringer Ausprägung können während der Selbstheilung bereits Entzündungshemmer ausreichend sein, die von Physiotherapie, aber auch alternativen Heilmethoden wie Akupunktur begleitet werden. Erst in der nächsten Stufe greift die interventionelle Schmerztherapie, bei der gezielte bildgesteuerte Injektionen oder Schmerzkatheter zur Anwendung kommen. Lässt es die Lebenssituation des Patienten zu, können auch stationäre Komplextherapien mit Infusionen, Physiotherapie und psychosomatischer Betreuung sinnvoll sein, um den Patienten buchstäblich aus dem Alltag zu nehmen und damit den Heilungsprozess zu beschleunigen. Auch schwere Fälle der Stufen 6 bis 9 können im Rahmen von Mikrotherapien und endoskopischen Eingriffen Erfolg versprechend ohne OP behandelt werden. Per Mikrolaser lassen sich beispielsweise störende Knorpelkörper in etwa 60-minütigen Eingriffen ambulant entfernen. Aktuelle Studien zeigen, dass konservativ behandelte Patienten fünf Jahre nach dem Bandscheibenvorfall in deutlich besserer Verfassung sind als operierte Patienten. Bei 70 % aller nicht operierten Patienten würde ein Kernspinbild den Vorfall zwei Jahre danach nicht einmal mehr erkennen.


Innovative Verfahren mit Stammzellen oder autologem conditioniertem Plasma

In unseren Einrichtungen in München und Bad Wiessee setzen wir als eines von wenigen Zentren Deutschlands mittlerweile mit erstaunlich positiven Resultaten bioregenerative Verfahren mit Stamm­zellen ein, die die Entzündungsreaktionen zurückdrängen, zur Knorpelneubildung anregen und somit dem natürlichen Verschleiß entgegenwirken. Einem ähnlichen Prinzip liegen auch die sogenannte ACP-Infiltration sowie die PRP-Therapie zugrunde – Behandlungen mit autologem conditioniertem Plasma, bei denen körpereigene Stoffe aus dem Blut des Patienten gewonnen und ins Gelenk eingespritzt werden. Hier werden die Wachstumsfaktoren des Blutes genutzt, um den Aufbauprozess des Knorpels anzuregen.

Anamnese und Untersuchung Grundvoraussetzung

Als wichtigste Grundlage einer erfolgreichen Therapie sollten aber immer das Anamnesegespräch sowie eine Untersuchung verstanden werden – bei 60 % aller Patienten basiert die Diagnose lediglich auf einer Bildgebung. In einem bereits 30-minütigen Gespräch lassen sich so viele wichtige Informationen über die Verfassung, die Lokalisierung des Schmerzes und die individuellen Lebensfaktoren des Patienten sammeln, die die Wahl der Therapie determinieren, auch aus psychologischer Perspektive. Unter allen Umständen vermieden werden muss, dass sich der Schmerz chronifiziert, also auch nach zwölf Wochen bis sechs Monaten nicht abklingt.


Multimodale Schmerztherapie

Wird der Schmerz doch chronisch, sollte eine multimodale Schmerztherapie zum Einsatz kommen, die interdisziplinär und ganzheitlich den Ursachen auf den Grund geht. Diese schließt auch eine psychologische Behandlung sowie eine verhaltenstherapeutische Schmerztherapie mit ein, da der Patient für eine Besserung häufig seine bisherigen Lebensgewohnheiten anpassen muss. Denn auch seelische Anspannung, Stress und Probleme im familiären oder beruflichen Umfeld können sich ihren Weg im Schmerz bahnen und entscheidend Einfluss auf das Schmerzempfinden nehmen. Die Einstellung des Patienten zur Therapie, aber auch die Ansprache des behandelnden Arztes und die zwischenmenschliche Begleitung kann deshalb eine entscheidende Rolle spielen, um Chronifizierung zu vermeiden und das sogenannte Schmerzgedächtnis erst gar nicht zu aktivieren; bereits nach wenigen Wochen anhaltender Schmerzen können Schmerzempfinden psychologisch induziert auch spürbar sein, wenn die Ursache längst beseitigt ist. Klassische Entspannungsübungen, aber auch Ansätze, wie autogenes Training oder Meditation, können deshalb zusätzlich hilfreich sein, um das Abklingen des Schmerzes zu beschleunigen.


Prävention fördern

Als klassische Aufgabe eines jeden Arztes verstehe ich es aber auch, die Prävention von Rückenleiden und Bandscheibenvorfällen zu fördern. Dazu gehört es, den Patienten konsequent auf unangemessene Lebensführung, Übergewicht, falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, Nikotin und Alkohol hinzuweisen und ihm stattdessen Entspannung und Stressabbau zu empfehlen. Denn all diese Faktoren fördern Überbelastung und Unterversorgung der Wirbelsäule und führen damit früher oder später unweigerlich zu Bandscheibenproblemen.

Der Autor

Dr. med. Martin Marianowicz
Facharzt für Orthopädie,
Chirotherapie und Sportmedizin
Ärztlicher Leiter der Marianowicz
Medizin Zentren München und
am Tegernsee

Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten:
gehören die ambulante und stationäre orthopädische Schmerztherapie sowie minimalinvasive Therapien bei Wirbel­säulen- und Bandscheibenerkrankungen.

Literatur beim Autor

Bildnachweis: FreezeFrameStudio, onceawitkin (iStockphoto); Marianowicz Medizin

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