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Recht

Neues aus der Rechtsprechung

Arzthaftung

Dr. jur. Christian Bichler

5.11.2021

Die Bedeutung sorgsamer Aufklärungen darf niemals unterschätzt werden. Das zeigen erneut aktuelle Entscheidungen aus dem Arzthaftungsrecht, die erfreulicherweise durchaus auch arztfreundliche Komponenten enthalten. Allerdings wird ebenfalls deutlich, dass Sorglosigkeiten auch strafrechtliche Relevanz haben können.

Der Gesetzgeber fordert, dass die Aufklärung mündlich durch den Behandelnden oder durch eine Person erfolgen muss, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt. Das Verwenden von Aufklärungsbögen, die von Patienten zu unterzeichnen sind, ist zwar eine wirksame Maßnahme, um im Haftungsprozess den Nachweis führen zu können, dass eine Einwilligung des Patienten eingeholt und eine Aufklärung durchgeführt wurde. Der Inhalt des Aufklärungsgesprächs kann jedoch – so das OLG Dresden (OLG Dresden, Urteil vom 30.06.2020, Az.: 4 U 2883/19) – allein anhand des Aufklärungsbogens nicht bewiesen werden. Das OLG fordert vielmehr, dass für den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung regelmäßig eine Anhörung bzw. Zeugeneinvernahme des aufklärenden Arztes vor Gericht erforderlich ist. Der Arzt muss sich hierbei jedoch nicht an das konkrete Aufklärungsgespräch erinnern, was vor dem Hintergrund der Vielzahl an Informations- und Aufklärungsgesprächen, die Ärzte täglich führen, auch zu viel verlangt wäre. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass dem Arzt in der Regel geglaubt werden soll, dass die Aufklärung auch im konkreten Fall in der gebotenen Weise geschehen ist, wenn die ärztliche Darstellung in sich schlüssig ist.

Zitat: Aufklärungsbogen allein genügt nicht

Aufklärung unmittelbar vor Koloskopie noch rechtzeitig?

Bei der Frage, ob eine Aufklärung rechtzeitig erfolgt ist, kommt es insbesondere auf den Schweregrad und die Risiken des Eingriffs an. Die weit verbreitete „24-Stunden-Regel“ existiert schlicht nicht. Vielmehr ist bei stationären Eingriffen mit geringen bzw. weniger einschneidenden Risiken eine Aufklärung am Vortag des Eingriffs angezeigt, teilweise wird sogar eine Information bei Terminvereinbarung des Eingriffs empfohlen. Bei „normalen“ ambulanten und diagnostischen Eingriffen darf sogar am Tag des Eingriffs aufgeklärt werden, wobei eine Aufklärung „vor der Tür des Operationssaals“ als zu spät einzuordnen ist (BGH, Urteil vom 14.06.1994 – VI ZR 178/93). Das OLG Dresden hat nun (OLG Dresden, Beschl. vom 16.03.2020 – 4 U 2626/19) jedoch entschieden, dass es bei einer ambulant durchgeführten Kolo­skopie genügt, wenn die Aufklärung erst erfolgt, nachdem der Patient die zur Vorbereitung erforderliche medikamentöse Darmreinigung bereits abgeschlossen hat. Der Eingriff hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen und für den Patienten bestand – so das OLG – noch die Möglichkeit, sich gegen den Eingriff zu entscheiden. Dies hat im konkreten Fall ausgereicht und die erst nach der Vorbereitungshandlung – hier der Darmreinigung – erfolgte Aufklärung ist als nicht zu spät gewertet worden. In der Praxis wird es zwar schwierig sein abzugrenzen, wann noch von einer bloß vorbereitenden Handlung ausgegangen werden kann und ob der Patient sich realistischerweise zu diesem Zeitpunkt noch umentscheiden kann bzw. würde. Daher ist anzuraten, das Aufklärungsgespräch vor Beginn von Vorbereitungshandlungen durchzuführen. Dennoch bietet die Entscheidung des OLG im Falle eines Aufklärungsfehlervorwurfs zumindest Argumentationsspielraum.

Konsiliararzt braucht keinen Fristenkalender

Das OLG Hamm (OLG Hamm, Urteil vom 30.10.2020 – 26 U 131/19) hat sich mit der Frage beschäftigen dürfen, welche Organisationspflichten einen Konsiliararzt treffen. In der Sache ging es um ein Früh­geborenes, bei dem die Kinderärzte des ebenfalls verklagten Perinatalzentrums konsiliarisch Augenärzte einer überörtlichen Gemeinschaftspraxis hinzugezogen hatten, um augenärztliche Untersuchungen vorzunehmen. Im Verlauf wurde jedoch versäumt, die augenärztlichen Untersuchungen leitliniengerecht mit kurzfristigen Intervallen anzuordnen (> Leitlinien). So wurde eine weit fortgeschrittene Form einer Frühgeborenen-Retinopathie (ROP) zu spät erkannt, was zur (teilweisen) Erblindung der Patientin führte. Den hinzugezogenen Konsiliarärzten wurde vorgeworfen, die Untersuchungsintervalle nicht überprüft und eine erneute Untersuchung nicht gefordert zu haben. Das OLG stellte jedoch klar, dass ein Konsiliararzt nicht verpflichtet ist, eigenständig zum Patienten Kontakt aufzunehmen, sofern der den Konsiliararzt hinzuziehende Arzt keine entsprechende Anforderung getätigt hat. Der Konsiliararzt darf sich darauf verlassen, dass der überweisende Arzt seinen Empfehlungen folgt. Ihm kommt keine eigene Verpflichtung zur Übernahme eigenverantwortlicher Untersuchungs- und Überwachungspflichten zu. Dies begründete das OLG u. a. damit, dass die Konsiliarärzte keine eigene Behandlungsdokumentation anlegen, letztlich allein aufgrund einer entsprechenden Konsilanforderung agieren und weder eine eigene Patientenakte noch einen „Fristenkalender“ zur Wiedervorstellung führen. Letztlich ist positiv zu bewerten, dass die an den konsiliarisch tätigen Arzt zu stellenden Organisationsanforderungen nicht zu hoch anzusetzen sind (> Praxismanagement). Zwar besteht für Konsiliarärzte eine Pflicht zur Weitergabe einer Handlungsanweisung oder Empfehlung. Allerdings besteht keine eigenständige Pflicht zu überprüfen, ob das behandelnde Krankenhaus dieser Empfehlung auch tatsächlich nachkommt.

Patient will Behandlungsdoku – ab sofort ohne Kostenersatz?

Verlangte ein Patient unter Berufung auf § 630g Abs. 1 S. 1 BGB bisher seine Behandlungsunterlagen, hatte er dem Behandler die hierfür entstehenden Kosten – im Voraus – zu erstatten. Das LG Dresden (LG Dresden, Urteil vom 29.05.2020 – 6 O 76/20) hat nun entschieden, dass dem Patienten – aufgrund des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO – seine gespeicherten personenbezogenen Daten durch Übermittlung der vollstän­digen Behandlungsdokumentation im PDF-Format unentgeltlich zur Verfügung zu stellen sind. Das zivilrechtliche Einsichtsrecht in die Patientenakte ist – so das LG Dresden – nicht vorrangig zum datenschutzrechtlichen Auskunftsverlangen. Dieses Gerichtsurteil wird im Spannungsverhältnis zwischen deutschem Medizinrecht und europäischem Datenschutzrecht zwar sicher nicht die letzte Entscheidung bleiben, dennoch sind Ärzte gut beraten, bei einem Auskunfts- oder Herausgabeverlangen eines Patienten schnell, d. h. innerhalb von maximal zwei Wochen, und unkompliziert, d. h. ohne Streitereien über Kostenersatz und daher im Zweifel kostenfrei, dem Patienten die betreffenden Unterlagen digital (alternativ als Kopie) zur Verfügung zu stellen.

Mammographie unauffällig – trotzdem weitere Untersuchung nötig?

Die nächste Entscheidung macht deutlich, dass ein Arzt in der Lage sein muss, bei der Befundung über den eigenen fachlichen Tellerrand hinauszuschauen. So muss der für die Auswertung eines Befundes verantwortliche Arzt alle Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs sowie der Behandlungssituation feststellt. Im vom BGH entschiedenen Fall (BGH, Urteil vom 26.05.2020 – VI ZR 213/19) ging es um ein Mammographie-Screening, dessen Ergebnis unauffällig war, bei dem die Patientin im Zuge der Anamnese jedoch eine Auffälligkeit (hier: Mamillenretraktion) erwähnte. Der das Screening durchführende Radiologe ist dieser von der Mammographie unabhängigen Auffälligkeit aufgrund des unauffälligen Screening-Befundes nicht weiter nachgegangen. Dies hätte er jedoch tun müssen, da der Zweck der Mammographie die Früherkennung einer Brustkrebserkrankung ist. Im vorliegenden Fall unterließ der Arzt den Hinweis, dass ein kontrollbedürftiger Befund (Mamillenretraktion) vorlag und dass Maßnahmen zur weiteren Abklärung ­medizinisch geboten waren, wodurch im Prozess von einer unterbliebenen Befunderhebung samt Beweislastumkehr auszugehen war. Die Patientin wurde nicht darauf hingewiesen, dass die in der Anamnese angegebene Mamillenretraktion – auch nach dem unauffälligen Screening – kontrollbedürftig war und dass weitere Untersuchungen zur Abklärung medizinisch geboten waren. Der Arzt durfte sich auch nicht darauf verlassen, dass die Patientin jährliche Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen durch­führen lässt. Somit wurde die Krebserkrankung der Patientin erst in einem fortgeschrittenen Stadium erkannt. Hierfür wurde letztlich der das Screening durchführende Arzt verantwortlich gemacht.

Arzt muss über eigene relevante Gesundheitsprobleme aufklären – sonst droht Strafe!

Besonders brisant war der vom LG Kempten (Urteil vom 08.10.2020 – 3 Ns 111 Js 10508/14) entschiedene Fall, der sogar vor einem Strafgericht verhandelt wurde. Dem angeklagten Augenarzt wurde vorgeworfen, mehrere Patienten nicht über seine eigenen, berufsrelevanten Gesundheitsprobleme aufgeklärt zu haben. Diese Probleme bestanden in einem erlittenen Schlaganfall mit Gehirnblutung und den Folgen dieser Erkrankung. Der Augenarzt litt nämlich unter neurologischen Einschränkungen (u. a. einer deutlichen motorischen Störung der rechten Hand), die eine Tätigkeit als ambulanter Operateur von Kataraktoperationen – das stellten mehrere Sachverständige fest – objektiv unmöglich machten. Dennoch führte der Arzt diverse Eingriffe durch, die teils in erheblichen Schädigungen bei seinen Patienten mündeten. Die betroffenen Patienten wurden vor den jeweiligen Eingriffen nicht über den Schlaganfall des Arztes und die damit verbundenen gesundheitlichen Einschränkungen informiert. Es fehlte somit an wirksamen Einwilligungen der Patienten in die Eingriffe, da die Patienten „nur“ über die Risiken von Kataraktoperationen im Allgemeinen informiert worden waren, nicht jedoch eine spezifische Aufklärung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arztes erhalten hatten, welche sich als solche Mängel in der Person des Arztes darstellten, dass sie für die sachgerechte Berufsausübung von Bedeutung waren. Es war davon auszugehen, dass keiner der Geschädigten sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung hätte operieren lassen (ob im Falle einer vollständigen Aufklärung der Arzt trotz seiner Gebrechen überhaupt hätte operieren dürfen, sei einmal dahingestellt). Der Arzt wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung in mehreren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung und einer Geldauflage verurteilt (eine vorsätzliche Körperverletzung wurde verneint, da nach Überzeugung des Gerichts der Arzt irrig davon ausging, trotz ihm bekannter eigener gesundheitlicher Einschränkungen ohne erhöhtes Risiko operieren zu können). Dieser tragische Fall zeigt einerseits auf eindrückliche ­Weise, welch gewichtige Folgen eine unzureichende Aufklärung und eine fehlerhafte Selbsteinschätzung haben können. Andererseits wird dadurch deutlich, wie wichtig es für Patienten ist, transparent und ungeschönt informiert zu werden. Nur wenn ordnungsgemäß aufgeklärt wird, sind selbstbestimmte Entscheidungen der Patienten überhaupt erst möglich.

FAZIT:

Aufklärungsfehler bleiben der Haftungs-Evergreen. Vor allem die besprochene Entscheidung des LG Kempten zeigt, welche harten Konsequenzen einem Arzt bei Nachlässigkeiten und Intransparenz im Feld der Aufklärung drohen. Bloße Schadensersatzansprüche werden in aller Regel von der Berufshaftpflichtversicherung übernommen. Sollten jedoch, so im Fall des LG Kempten, auch strafrechtliche Sanktionen im Raum stehen, hilft die Berufshaftpflichtversicherung nicht weiter. Diese übernimmt weder eine verhängte Geldstrafe noch eine auferlegte Freiheitsstrafe. Auch die Approbation kann nur dem Arzt selbst und nicht der Versicherung entzogen werden. Demnach muss sich jeder Arzt stets vor Augen halten: Behandlungsfehler können passieren, Aufklärungsfehler bleiben in weiten Teilen vermeidbar.

Der Autor

Dr. jur. Christian Bichler
Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator
Fachanwalt für Medizinrecht
85609 Aschheim

cb@jurmed.de

Bildnachweis: thenatchdl (iStockphoto)

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