Ein wesentlicher Bestandteil der medizinischen Versorgung macht bei Senioren die Pharmakotherapie von Schmerzen aus. Allerdings erschwert die komplexe Situation der Älteren u. a. mit Polymorbidität, Gebrechlichkeit und zunehmender Pflegebedürftigkeit sowie die Nähe zum Lebensende die Therapieentscheidungen erheblich.
Mit zunehmendem Alter steigt häufig nicht nur die Zahl der klinisch relevanten und schmerzmedizinisch behandlungsbedürftigen Diagnosen, sondern auch die der Begleiterkrankungen und damit meist auch die Zahl der verordneten Medikamente, sodass die altersbedingte Multimorbidität fast immer zu einer Polypharmazie führt. Hinzukommen die sich mit zunehmendem Alter einstellenden Veränderungen von Körper- und Organfunktionen sowie die damit verbundenen Änderungen von Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, die nicht nur zusätzlich das Risiko von Neben- und Wechselwirkungen erhöhen, sondern oft auch in Kontrast zu eher überschaubaren Wirkungen stehen. Zudem mangelt es sowohl an altersspezifischen kontrollierten Studien als auch an entsprechenden Versorgungsforschungsstudien und damit auch an alltagsrelevanten Daten zu Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit von Schmerztherapeutika bei Älteren.
Die Herausforderung
Diese durchaus komplexe Situation erfordert im praktischen Alltag Erfahrung und eine sorgfältige Individualisierung. Es ist praktisch unmöglich, allgemeingültige einfache Regeln für eine medikamentöse Schmerztherapie im Alter aufzustellen. Hilfsmittel wie Positiv-/Negativlisten, Scores oder Algorithmen helfen vor allem bei der Evaluation bereits bestehender Therapien, sind jedoch für Neueinstellungen meist weniger geeignet. Kontinuierliche Weiterbildung, rationale Therapieentscheidungen und eine kritische Begleitung des Behandlungsverlaufs sind für eine sichere und wirksame medikamentöse Schmerztherapie im Alter unabdingbar. Im Weiteren einige Anregungen dazu.
Die Hauptdirektive
Neben den Prinzipien des „primum nil nocere“ und des „less is more“ gilt es zu berücksichtigen, dass viele Betroffene erst dank einer ausreichend stark wirksamen medikamentösen Schmerztherapie wieder in die Lage versetzt werden, ihren Lebensalltag selbstbestimmt zu gestalten und durch Bewegung der Chronifizierung ihrer Schmerzen aktiv entgegenwirken zu können. Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit jedweder rational ausgewählten Pharmakotherapie müssen deshalb individuell ausbalanciert und engmaschig evaluiert werden. Eine nebenwirkungsarme, jedoch wirkungslose Therapie ist letztlich schmerzmedizinisch genauso sinnlos, wie eine wirkungsstarke, jedoch nebenwirkungsreiche Behandlung!
Die schmerztherapeutische Neueinstellung
Vor der Entscheidung über eine medikamentöse Neu- bzw. Ersteinstellung mit Analgetika sollten die nachfolgenden 2 Punkte geklärt sein:
Schmerzphänotyp
Da sich aus dem klinischen Erscheinungsbild Hinweise auf die zugrunde liegenden Pathomechanismen ableiten lassen, sollte zunächst der zugrunde liegende Phänotyp definiert werden. Dabei sollte vor allem zwischen nozizeptiven Schmerzen, neuropathischen Schmerzen, noziplastischen Schmerzen und gemischten (zumeist nozizeptiven und neuropathischen) Schmerzen unterschieden werden.
Neben Anamnese (Ursache, Schädigungsart etc.) und dem topografischen Befund können hier standardisierte Screening-Instrumente (z. B. PDQ7, DN4-Fragebogen etc.) zum Einsatz kommen, die i. d. R. bei der Vorbereitung der orientierenden klinischen Untersuchung hilfreich sind.
Topische Therapie möglich oder systemische Therapie notwendig?
Die gezielte Anwendung lokaler Schmerzmittel geht im Vergleich zu systemischen Therapien mit einem deutlich geringeren (nicht selten fehlenden) Risiko systemischer Neben- oder Wechselwirkungen einher und ist (meist) durch eine gute Verträglichkeit gekennzeichnet und einfach in der Anwendung.
Wirkstoffauswahl und Therapieeinleitung
Auf Basis dieser beiden Punkte sollte dann – unter Berücksichtigung der verfügbaren Evidenz/Leitlinien etc. und der Beachtung der individuellen Bedürfnisorientierung im Zuge eines partizipativen Entscheidungsprozesses – eine individuelle Therapieentscheidung bzgl. eines konkreten Arzneimittels getroffen werden können, dessen Nutzen bei der vorliegenden Schmerzerkrankung alle bekannten/möglichen Nebenwirkungen überwiegt.
Die Therapieeinleitung erfolgt bei älteren Patienten und Patientinnen letztlich nach dem Prinzip „start low, go slow and stay low“ sowie unter anfangs engmaschiger, später dann (bei guter Wirksamkeit und Verträglichkeit sowie sonst stabilem Gesundheitszustand) unter regelmäßiger Verlaufskontrolle.
Prüfung einer bestehenden Schmerztherapie
Bei der Evaluation der Sinnhaftigkeit einer bereits etablierten pharmakologischen Schmerztherapie sollten immer Fragen nach der Behandlungsindikation, der Verträglichkeit, der Wirksamkeit (bzgl. Beschwerdelinderung bzw. dem Grad der Erreichung des eigentlichen Therapieziels), möglichen Therapiealternativen und der eingesetzten Dosis stehen. In vielen Fällen kann eine schrittweise Prüfung anhand der nachfolgenden Punkte sinnvoll sein, um das weitere Vorgehen zu rationalisieren:
a) Besteht ein evidenzbasierter Konsens darüber, dass das Arzneimittel in der angegebenen Dosierung bei Personen dieser Altersgruppe (ggf. diesem Grad der Behinderung) und der vorliegenden Schmerzerkrankung angewendet werden kann und dass der Nutzen alle bekannten möglichen Nebenwirkungen überwiegt? (Wenn „nein“, absetzen!)
b) Ist die Behandlungsindikation unverändert gegeben? (Wenn „nein“, absetzen!)
c) Überwiegt der mögliche Nutzen des Arzneimittels die bekannten möglichen Nebenwirkungen? (Wenn „nein“, absetzen!)
d) Gibt es irgendwelche unerwünschten Symptome oder Anzeichen, die mit dem Arzneimittel im Zusammenhang stehen könnten? (Wenn „ja“, Wirkstoffwechsel!)
e) Gibt es ein anderes Arzneimittel, das dem aktuell verabreichten Medikament überlegen sein könnte? (Wenn „ja“, Wirkstoffwechsel!)
f) Kann die Dosis ohne nennenswerten Wirkverlust reduziert werden? (Wenn „ja“, Dosisreduktion; wenn „nein“, Fortführung der Therapie bis zur nächsten Evaluation).
Der Autor
PD Dr. med. Michael A. Überall
Medizinischer Direktor des IFNAP – privates Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie,
Präsident der Deutschen Schmerzliga
Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin
90411 Nürnberg
Bildnachweis: privat