Die Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfekten, die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose oder die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion – dies sind nur drei von 24 medizinischen Leistungen, die im deutschen Gesundheitssystem häufig erbracht werden, obwohl ihr Nutzen diskutiert wird.
Die Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfekten, die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose oder die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion – dies sind nur drei von 24 medizinischen Leistungen, die im deutschen Gesundheitssystem häufig erbracht werden, obwohl ihr Nutzen diskutiert wird.
Diese 24 Leistungen wurden in einer wissenschaftlichen Studie unter der Leitung von Prof. Dr. PH Verena Vogt (Jena) identifiziert. Ein Team hatte in der Studie die unangemessene medizinische Versorgung im deutschen Gesundheitssystem erstmals systematisch untersucht. Durchgeführt worden war sie zwischen 2020 und 2024 am TU-Berliner Fachgebiet Management im Gesundheitswesen.
Bislang kaum wissenschaftlich analysiert
Die Auswertung von Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse ergab, dass von 10,6 Millionen untersuchten Leistungen jährlich zwischen 4,0 bis 10,4 % als medizinisch unangemessen eingestuft werden können. Die daraus entstehenden direkten Kosten belaufen sich im ambulanten Sektor der Techniker Krankenkasse auf etwa 10 bis 15 Millionen Euro jährlich.
„Angesichts der knappen finanziellen und personellen Ressourcen im Gesundheitssystem wollten wir einen Bereich untersuchen, der bislang kaum wissenschaftlich analysiert wurde – die Überversorgung“, sagt Vogt. „Unser Ziel war es zu quantifizieren, wie viele Leistungen im deutschen Gesundheitssystem als Überversorgung gelten.“
In einem ersten Schritt identifizierte das Forschungsteam auf Grundlage einer systematischen Literaturrecherche 123 medizinische Leistungen, die weltweit von Fachgesellschaften – unter anderem auch durch die „Choosing Wisely“-Initiative, die unnötige medizinische Leistungen reduzieren möchte (www.choosingwisely.org), - als unangemessen eingestuft werden. Anschließend wurden 24 dieser Leistungen von Expert:innen deutscher medizinischer Fachgesellschaften als relevant und messbar in deutschen Krankenkassendaten bewertet. Zu den identifizierten Leistungen gehören unter anderem:
Vermeidbare Ausgaben
„In den Daten der Techniker Krankenkasse fanden wir jährlich 200 000 bis 300 000 Fälle, bei denen für Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion die Schilddrüsenhormone fT3/fT4 im Labor bestimmt worden sind. Der TSH-Wert gilt jedoch bereits als aussagekräftiger Indikator, so dass eine zusätzliche Messung von fT3/fT4 keine weiteren diagnostischen Erkenntnisse liefert. Aber ein einzelner fT3- oder fT4-Test kostet mindestens 3,70 Euro. Insgesamt wären 2,15 Millionen Euro allein für diese Laboruntersuchungen vermeidbar gewesen“, so Meik Hildebrandt (Berlin), wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Ein anderes Beispiel ist die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Carolina Pioch (Berlin) erklärt dazu: „Tumormarker dienen zur Verlaufskontrolle bei bestehenden Krebserkrankungen und nicht zur allgemeinen Diagnostik. Dennoch identifizierten wir jährlich 50 000 bis 60 000 Fälle solcher Tests ohne bestehende Krebsdiagnose, wodurch vermeidbare Ausgaben von rund 520 000 Euro pro Jahr entstanden.“
Die Spanne der Fallzahlen erklärt sich durch Unsicherheiten bei der Unterscheidung zwischen angemessener und unangemessener Versorgung. Diese Unsicherheiten ergeben sich aus unvollständigen Daten, etwa durch fehlende Datumsangaben oder Diagnosedetails. Diese Unsicherheiten führen dazu, dass sich manche Fälle nicht eindeutig als angemessen oder unangemessen einstufen lassen. Um diesen Unsicherheiten zu begegnen, wurden sowohl eine breite Definition (die potentiell eine Überschätzung bedeutet) als auch eine enge Definition (die potentiell eine Unterschätzung bedeutet) auf alle geeigneten Indikatoren angewendet. Dadurch wurde ein Bereich ermittelt, innerhalb dessen das tatsächliche Ausmaß der Überversorgung vermutlich liegt.
Gesundheitliche Risiken
Das Forschungsteam sieht seine Studie als einen Impulsgeber, um das Thema Überversorgung und deren Ursachen weiter zu erforschen und gezielt Maßnahmen zu entwickeln, die die Qualität, Sicherheit und Kosteneffizienz der Patientenversorgung verbessern. Denn Deutschland habe zwar eines der teuersten Gesundheitssysteme, aber nicht eines der effizientesten, konstatiert Vogt. Zudem birgt Überversorgung auch gesundheitliche Risiken für die Patienten, etwa durch die Entstehung von Antibiotika-Resistenzen durch unnötige Antibiotikagabe oder stressinduzierende Folgeuntersuchungen durch falsch-positive Diagnosen.
Pressemitteilung „Überversorgung im deutschen Gesundheitssystem: unangemessene medizinische Leistungen identifiziert“. Technische Universität Berlin, 3.3.2025 (https://www.tu.berlin/news/pressemitteilung/ueberversorgung-im-deutschen-gesundheitssystem-unangemessene-medizinische-leistungen-identifiziert).
* Hildebrandt M et al.: Quantifying Low-Value Care in Germany: An Observational Study Using Statutory Health Insurance Data From 2018 to 2021. Value Health. 2024 Nov 20:S1098-3015(24)06760- (DOI 10.1016/j.jval.2024.10.3852).