Menschen mit starkem Übergewicht werden vom Gesundheitssystem im Stich gelassen, kritisiert die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG). Schätzungsweise 17 Millionen Menschen in Deutschland sind von Adipositas betroffen, doch die Allerwenigsten erhalten eine Therapie gemäß medizinischen Empfehlungen.
In etwa 9 von 10 Fällen wird die Erkrankung Adipositas nicht einmal diagnostiziert. Dass Betroffene für ihre Behandlung oft selbst aufkommen müssen, ist „mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar“ und steht „im Widerspruch zur Anerkennung der Adipositas als Krankheit“, sagte DAG-Präsident Prof. Dr. Jens Aberle (Hamburg) bei einer Pressekonferenz der Fachgesellschaft. „Die Adipositastherapie ist keine Lifestyle-Beratung, sondern die Behandlung einer chronischen Krankheit. Diese Erkenntnis hat sich in der wissenschaftlichen Fachwelt längst durchgesetzt“, betonte DAG-Vorstandsmitglied Dr. Christina Holzapfel (München). „Dass die Adipositastherapie in aller Regel eine freiwillige Leistung der Krankenkassen darstellt, ist weder gerechtfertigt noch zielführend. Die fehlende Sicherheit bei der Kostenübernahme erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm – vor allem im ambulanten Bereich“, ergänzte DAG-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Hans Hauner (München).
Aktuell muss die Kostenübernahme für die Adipositastherapie individuell beantragt werden. Ob und zu welchem Anteil beispielsweise die Kosten für eine Ernährungsberatung oder eine Bewegungstherapie übernommen werden, ist eine individuelle Entscheidung der jeweiligen Krankenkasse. Andere Therapie-Optionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet, da eine Verschreibung von Präparaten zur Gewichtsreduktion zu Lasten der Kassen gesetzlich ausgeschlossen ist. Lediglich bei geprüften Smartphone-Apps, den digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs), müssen Kassen die Kosten übernehmen.
Der Bundesgesetzgeber hat die Versorgungslücke erkannt und 2020 eine Reform auf den Weg gebracht. Die Adipositas wurde mit Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) offiziell als Krankheit anerkannt. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss nun bis Juli 2023 ein strukturiertes Behandlungsprogramm für Betroffene von Adipositas beschließen („DMP Adipositas“). Das stellt aus Sicht der DAG zwar einen „Meilenstein“ dar und könnte ein Anstoß sein, die defizitäre Versorgungssituation zu verbessern. Allerdings kann ein DMP allein das grundlegende Problem der fehlenden Kostenübernahme nicht lösen. Dazu muss der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen überarbeitet und die rechtlichen Hürden für die Arzneimitteltherapie beseitigt werden, so die DAG.
Pressemitteilung Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), Oktober 2022
Bischoff G, Inn Med (Heidelb). 2022 Oct 25 (DOI 10.1007/s00108-022-01420-x).