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Interview

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Risikobewertung: Der Mensch ist eine Mustererkennungsmaschine

Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier

25.8.2023

Entscheidungen, die unsere Patientinnen fällen, sind rational oft kaum zu erklären – das gilt für die Kontrazeptionsberatung genauso wie fürs Impfen. Warum ist das so? Darüber sprechen wir mit Prof. Wolfgang Gaissmaier. Er ist Entscheidungsforscher und analysiert, warum Menschen so handeln wie sie handeln.

Herr Professor Gaissmaier, warum tun sich Menschen generell mit der Einschätzung von Risiken so schwer?

Der Umgang mit Risiko ist etwas, was uns über lange Zeit in der Evolutionsgeschichte beschäftigt hat. Es gab viele Dinge, vor denen zu fürchten es sich gelohnt hat. Das sind häufig Dinge, die uns heute nicht mehr betreffen, die aber tief verwurzelt sind in unseren Ängsten. Wer Kinder hat, kennt das Problem. Es ist relativ einfach, den Kindern Angst vor Spinnen zu vermitteln. Es ist aber relativ schwierig, den Kindern Angst vor Steckdosen zu vermitteln, wenn sie klein und neugierig sind. Auf viele Dinge sind wir entwicklungsgeschichtlich nicht vorbereitet.

Was sich auch stark verändert hat: Früher haben Menschen in kleinen Gruppen zusammengelebt und haben natürlich andere beobachtet. Was machen die so? Wovor fürchten die sich? Über Erzählungen von anderen sind wir tatsächlich in der Lage, Informationen über die Wahrscheinlichkeit von bestimmten Risiken zu verarbeiten. Das in einem größeren Zusammenhang wie den Medien zu beurteilen, ist evolutionsgeschichtlich völlig neu.

Der Umgang mit statistischen Informationen fällt uns schwer, selbst wenn die statistischen Informationen gut aufbereitet und damit leichter verständlich sind. Menschen setzen eher auf persönliche Erfahrungen. Was die Nachbarin erzählt oder der Handwerker, bekommt so ein sehr viel stärkeres Gewicht. Das gilt natürlich auch für die sozialen Medien im Internet. Anekdotische Evidenz, die eigentlich relativ irrelevant ist, bekommt so eine große Bedeutung. Weil diese nüchternen abstrakten Zahlen uns einfach emotional nicht in derselben Art und Weise berühren.

Sprechen wir konkret über das Impfen. Egal ob Influenza oder HPV, die Evidenz spricht deutlich fürs Impfen. Die Impfquoten sind zum Teil aber ­erbärmlich schlecht. Wo sehen Sie die Hürden beim Impfen?

Es gibt beim Impfen tatsächlich eine ganze Menge Hürden, die auch von Impfung zu Impfung jeweils ein bisschen unterschiedlich sind. Aber es gibt wahrscheinlich ein paar Dinge, die allen gemeinsam sind. Schon die Entwicklung der ersten Impfstoffe vor mehr als 100 Jahren war von irrationalen Ängsten und wilden Theorien begleitet. Auch heute kursieren noch solche Geschichten, etwa dass die MMR-Impfung irgendwas mit Autismus zu tun hat. Da gab es gefälschte Daten und falsch ausgewertete Daten, die das vermeintlich gestützt haben. Diese Mythen, die sich ums Impfen ranken, die sind sehr, sehr alt und auch immer noch sehr prävalent.

Eine Impfung hat tatsächlich auch eine stark emotionale Komponente. Hier ist der reine, gesunde Körper und da wird ein Stoff „hineingegeben“. Das ist irgendwie unrein und das wollen Menschen nicht. Das äußern aber die wenigsten Menschen so, sie schieben dann rationaler klingende Gründe vor, wie etwa Langzeitwirkungen, die noch nicht erforscht sind.

Was natürlich in vielen Fällen gerade bei neueren Impfungen erst einmal stimmt und sich vernünftig anhört. Aber wir wissen wiederum auch, dass die Langzeitwirkungen von Viruserkrankungen sehr viel gefährlicher sind. Und die sind sehr gut dokumentiert. Gerade bei neurologischen Erkrankungen sehen wir zunehmend Daten, die auf teilweise lang zurückliegende Virusinfektionen hinweisen.

Was natürlich beim Impfen passieren kann, ist, dass zufällig zwei Dinge gemeinsam auftreten, also dass Sie z. B. Ihr Kind impfen lassen und dann bekommt es innerhalb von einigen Tagen eine Autismus-Diagnose. Auch wenn diese Dinge kausal gar nichts miteinander zu tun haben, suchen Menschen in einer solchen Situation nach einem Grund. Und dann fällt ihnen auf: Was haben wir die letzten Tage gemacht? Wir haben das Kind geimpft.

Wir sind, wie ich das manchmal nenne, Mustererkennungsmaschinen, die nach Zusammenhängen suchen, nach Korrelationen und Kausalitäten. Und das ist natürlich eigentlich auch gut, weil viele wichtige Dinge im Leben eben nicht zufällig sind. Aber das führt dann eben auch dazu, dass wir illusionäre Zusammenhänge wahrnehmen, wo eben gar keine Zusammenhänge sind. Und wir sind soziale Wesen und übernehmen sehr viele Einstellungen und Ansichten von anderen.

Darf ich da kurz nachhaken? Ich fand Ihren Ausdruck „Mustererkennungs­maschine“ sehr passend. Das heißt, wir als Menschen müssen für alles, was passiert, eine Erklärung finden?

Wenn man das signalentdeckungstheoretisch betrachtet, sind wir darauf geeicht, Dinge als zusammenhängend wahrzunehmen, die gemeinsam auftreten. Und das ist tatsächlich nützlich. Wenn ich irgendwas esse und es geht mir dann schlecht, profitiere ich davon, diesen Zusammenhang zu entdecken. Aber ich kann dann auch Zusammenhänge erkennen, wo gar keine sind. Der Zufall verteilt die Dinge gleichmäßig über eine sehr lange Zeit. Aber so weit reicht unser Gedächtnis nicht. In kurzen Zeitabschnitten, an die wir uns erinnern können, ist es durchaus zu erwarten, dass bestimmte Sachen gehäuft auftreten.

Erklärt das womöglich auch das zum Teil abstruse Verhalten während der Pandemie in den vergangenen drei Jahren?

Ja, tatsächlich. Davon würde ich auf jeden Fall ausgehen.

Herr Prof. Gaissmaier, vielen Dank für dieses spannende Gespräch.

Hier gehts auch zum Podcast mit Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier

Im Interview

Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier
Social Psychology and Decision Sciences
Universität Konstanz

gaissmaier@uni-konstanz.de

Bildnachweis: privat

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