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Gynäkologie

Hallmarks of Aging

Altern: Vom Entschlüsseln der Faktoren zur Therapie

Dr. rer. nat. Reinhard Merz

15.4.2024

Die „Hallmarks of Aging“ von 2013 waren ein Meilenstein in der Erforschung des Alterns und die dort vorgestellten Theorien haben die Präventionsmedizin 10 Jahre lang geprägt. 2023 wurden sie jetzt aktualisiert. Dieser Beitrag beschreibt den heutigen Stand des Wissens.

Vor mehr als 10 Jahren im Jahr 2013 wurde erstmals eine umfassende Theorie publiziert, die den gesamten Bereich der molekularen Alterungsforschung integriert. „The Hallmarks of Aging“ beschrieben die entscheidenden Alterungsprozesse auf molekularer Ebene [1]. Diese Grundlagen des ­Alterns hatten wir für Sie 2022 schon einmal im ­DER PRIVATARZT GYNÄKOLOGIE aufbereitet [2]. Im vergangenen Jahr erschien eine neue Version dieses Meilenstein-Beitrags und der beginnt mit einer Zusammenfassung des vergangenen Jahrzehnts [3]: „Seit 2013 sind fast 300 000 Artikel zu diesem Thema erschienen, so viele wie im gesamten vergangenen Jahrhundert.“ 2013 hatten die ­Autoren 9 molekulare, zelluläre und systemische Kennzeichen des Alterns vorgeschlagen: DNA-Instabilität, Telomerverschleiß, epigenetische Veränderungen, Verlust der Proteostase, gestörte Nährstoffsensitivität, mitochondriale Dysfunktion, zelluläre Seneszenz, Erschöpfung der Stammzellen und veränderte interzelluläre Kommunikation.

In der Zwischenzeit haben Experimente die Gültigkeit der meisten dieser Merkmale bei Säugetieren bestätigt.

Damals basierte ein Großteil der Ergebnisse noch auf Nicht-Säugetier-Modellorganismen wie Hefe, Fadenwürmern und Fruchtfliegen. Seitdem haben Experimente mit Mäusen (und in einigen Fällen auch mit nicht menschlichen Primaten) die Gültigkeit der meisten dieser Merkmale bei Säugetieren inzwischen bestätigt. Neben der notwendigen Aktualisierung der bisherigen Merkmale wurden auch einige Umstrukturierungen vorgenommen und die folgenden 3 zusätzlichen Kennzeichen des Alterns aufgenommen: deaktivierte Makroautophagie, chronische Entzündung und Dysbiose (Abb. 1). Und unser besonderes Augenmerk soll den 3 neuen Hallmarks gelten.

Die Autophagie wird abgeschaltet

Die Autophagie beinhaltet die Ablagerung von zytoplasmatischem Material in Vesikeln, den Autophagosomen, die später mit Lysosomen verschmelzen, um den Inhalt des Lumens zu verdauen [4]. Die Autophagie betrifft auch Makromoleküle, die nicht aus Proteinen bestehen (ektopische DNA, Lipidvesikel, Glykogen), und ganze Organellen.

Beim Menschen nimmt die Expression von Genen, die mit der Autophagie zusammenhängen, wie ATG5, ATG7 und BECN1, mit dem Alter ab [5]. So geht eine verringerte Autophagie in zirkulierenden B- und T-Lymphozyten von alternden Spendern mit einer Verringerung des proautophagischen Metaboliten Spermidin einher [6]. Ein Rückgang des autophagischen Flusses kann zur Anhäufung von Proteinaggregaten und dysfunktionalen Organellen, zu einer verminderten Eliminierung von Krankheitserregern und zu verstärkten Entzündungen führen. In Mausmodell beschleunigt die genetische Hemmung der Autophagie den Alterungsprozess. Dieser Prozess ist teilweise reversibel, wie bei Mäusen gezeigt werden konnte [7]. Die Autophagie wirkt offenbar auch als tumorsupprimierender Mechanismus, an dem möglicherweise zellautonome Prozesse und die Immunüberwachung von Krebs beteiligt sind [8].

Zu den pharmakologischen Wirkstoffen, die die Autophagie anregen und sich positiv auf die ­Lebensdauer von Mäusen auswirken, gehören NAD+-Vorstufen [9]. Klinische Studien haben deren Wirk­samkeit bei der Chemoprävention von Nicht-Melanom-Hautkrebs, bei der Umkehrung der Insulinresistenz bei prädiabetischen Frauen und bei der Verringerung der Neuroinflammation bei Parkinson-Patienten nachgewiesen [10-12].  

Chronische Entzündungen

Entzündungen nehmen im Laufe des Alterns zu ­(„Inflammaging“), sowohl mit systemischen Manifestationen als auch mit pathologischen lokalen Phänomenen wie Arteriosklerose, Neuroinflammation, Osteoarthritis und Bandscheibendegenerationen. Dementsprechend steigen die zirkulierenden Konzentrationen von Entzündungszytokinen und Biomarkern (wie CRP) mit zunehmendem Alter an. Erhöhte IL-6-Werte im Plasma gelten als ein prädiktiver Biomarker für die Gesamtsterblichkeit bei alternden Menschen [13].

Entzündungen sind das Ergebnis einer Vielzahl von Störungen, die sich aus allen anderen Merkmalen ergeben. So wird die Entzündung beispielsweise durch die Translokation von Kern- und mtDNA in das Zytosol ausgelöst, wo sie entzündungsfördernde DNA-Sensoren stimuliert, vor allem, wenn die Autophagie unwirksam ist und daher die ektopische DNA nicht abfangen kann [14]. Die Überexpression von entzündungsfördernden Proteinen kann auf eine epigenetische Dysregulation, eine mangelhafte Proteostase oder eine gestörte Autophagie zurückzuführen sein.

Tatsächlich können gezielte Eingriffe in das Entzündungs- und Immunsystem den Alterungsprozess in verschiedenen Organsystemen beschleunigen oder verlangsamen. So reicht zum Beispiel ein T-Zell-spezifischer Defekt des mitochondrialen Transkriptionsfaktors A (TFAM) aus, um kardiovaskuläre, kognitive, metabolische und körperliche Alterungsprozesse in Verbindung mit einem Anstieg der zirkulierenden Zytokine zu fördern. Der TNF-α-Hemmer Etanercept kehrte diesen Phänotyp teilweise um [15]. Es gibt zahlreiche  weitere Beispiele für die gesundheits- und lebensverlängernde Wirkung entzündungshemmender Behandlungen.

In der Kardiologie macht man sich diesen Umstand schon lange durch die präventive Gabe von Aspirin in niedriger Dosierung zunutze. Doch obwohl die langfristige Einnahme positive Auswirkungen auf die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Magen-Darm-Krebs haben kann, ergab eine große klinische Phase-III-Studie, in der Aspirin an über 70-jährige Personen verabreicht wurde, negative Ergebnisse [16]. Daher sind weitere Studien erforderlich, um den Wert einer prophylaktischen Behandlung mit Aspirin in jüngeren Jahren zu erforschen, um Aspirin mit anderen Medikamenten zu kombinieren oder um Aspirin durch weniger toxische entzündungshemmende Medikamente zu ersetzen.

Das Mikrobiom als Schlüsselfaktor

In den vergangenen Jahren hat sich das Darmmikrobiom als Schlüsselfaktor für zahlreiche physiologische Prozesse herausgestellt, z. B. für die Verdauung und Absorption von Nährstoffen, den Schutz vor Krankheitserregern und die Produktion von essenziellen Stoffwechselprodukten wie Vitaminen, Aminosäurederivaten, sekundären Gallensäuren und kurzkettigen Fettsäuren (SCFA). Die Darmmikrobiota sendet auch Signale an das periphere und zentrale Nervensystem sowie an andere entfernte Organe und hat einen großen Einfluss auf die Aufrechterhaltung der Gesundheit des Wirts [17].

Wenn diese bidirektionale Kommunikation zwischen Bakterien und Wirt gestört ist, führt dies zu einer Dysbiose und trägt zu einer Vielzahl von Krankheiten bei, wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, Colitis ulcerosa, neurologische Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs [18]. Die Architektur und Aktivität dieser Bakteriengemeinschaft verändert sich jedoch im Laufe des Alterns allmählich und führt schließlich zu einer allgemeinen Abnahme der ökologischen Vielfalt [19].

Bemerkenswert ist, dass das individuelle Darmmikrobiom mit zunehmendem Alter immer einzigartiger wird und diese Einzigartigkeit mit bekannten mikrobiellen Stoffwechselprodukten in Verbindung gebracht wird, die an der Immunregulation, Entzündungen und dem Altern beteiligt sind. Im höheren Alter zeigen gesunde Teilnehmer und Teilnehmerinnen eine kontinuierliche Entwicklung hin zu einer einzigartigen Mikrobiomzusammensetzung, während diese Entwicklung bei Personen mit schlechterem Gesundheitszustand weniger oder gar nicht stattfindet [20].

Viele Erkenntnisse zur Bedeutung des Mikrobioms stammen aus fäkalen Mikrobiota-Transplantationen (FMT) im Mausmodell. So lieferte die FMT Beweise für die Bedeutung der Darmmikrobiota bei der Aufrechterhaltung der kognitiven Gesundheit und der Immunität während des Alterns [21]. Die Mikrobiota von jungen Mäusen kehrte die altersbedingten Unterschiede bei den Stoffwechselprodukten im Hippocampus und der Immunität des Gehirns um und verbesserte die altersbedingten Beeinträchtigungen des kognitiven Verhaltens, wenn sie in einen alten Wirt transplantiert wurde. Diese Arbeiten eröffnen die Möglichkeit, die Darmmikrobiota mit Prä-, Pro- und Postbiotika zu manipulieren, um das Immunsystem und das alternde Gehirn zu verjüngen.

Darüber hinaus führen Diäten mit Kalorienrestriktion zu strukturellen Veränderungen des Darmmikrobioms und erhöhen die Häufigkeit von Lactobacillus und anderen Arten, die das gesunde Altern beeinflussen. Insgesamt unterstreichen diese Ergebnisse den kausalen Zusammenhang zwischen Alterung und Dysbiose und legen nahe, dass Maßnahmen zur Wiederherstellung eines jugendlichen Mikrobioms die Gesundheit und Lebensdauer verlängern können.

Die Integration der Hallmarks

Alle 12 Merkmale des Alterns sind eng miteinander verbunden. Die genomische Instabilität (einschließlich der durch die Telomerverkürzung verursachten) steht in Wechselwirkung mit epigenetischen Veränderungen, dem Verlust der Proteostase, gestörter Makroautophagie und Nährstoffsensitivität sowie mitochondrialer Dysfunktion, zellulärer Seneszenz (DNA-Schäden lösen Seneszenz aus), veränderter interzellulärer Kommunikation (z. B. durch die Behinderung der Aktivierung von Kommunikationswegen), chronischen Entzündungen und Dysbiose.

Diese Verflechtung zeigt sich auch auf der Ebene experimenteller Anti-Aging-Maßnahmen, die oft gleichzeitig auf mehrere Merkmale einwirken. Obwohl jedes der 12 Alterungsmerkmale einzeln angegangen werden kann, was sich positiv auf die Gesundheit und die Lebensspanne auswirkt, gibt es eine Art Hierarchie unter ihnen (Abb.):

Die primären Merkmale, die Schäden am Genom, den Telomeren, dem Epigenom, dem Proteom und den Organellen widerspiegeln, steigen mit der Zeit an und tragen eindeutig zum Alterungsprozess bei [22].

Die antagonistischen Merkmale (Reaktionen auf Schäden) spielen eine differenziertere Rolle im Alterungsprozess. Trophische Signale und anabole Reaktionen, die durch Nährstoffe aktiviert werden, wirken sich in der Jugend positiv aus, sind aber später weitgehend altersfördernd.

Die integrativen Merkmale schließlich entstehen, wenn die durch die primären und antagonistischen Merkmale verursachten Schäden nicht mehr kompensiert werden können. Das führt zu einer Erschöpfung der Stammzellen, zu Veränderungen in der interzellulären Kommunikation, zu chronischen Entzündungen und Dysbiose, die zusammen das Tempo des Alterns bestimmen.

Heterochrone Parabiose-Experimente, bei denen die Gefäßsysteme von jungen und alten Mäusen miteinander verbunden werden, veranschaulichen die Bedeutung systemischer Regulationsfaktoren (wie Hormone und zirkulierende Zellen) für den Alterungsprozess. Dieses Phänomen wurde auf der Ebene der Einzelzell-Transkriptomik umfassend charakterisiert und liefert eine räumlich-zeitliche Karte der Fähigkeit eines jungen Systems, ein älteres zu verjüngen, oder umgekehrt der Fähigkeit von Pro-Aging-Faktoren, die Seneszenz junger Zellen zu beschleunigen [23].

Pro-Aging- und Anti-Aging-Mechanismen können also zwischen verschiedenen Zelltypen vermittelt werden, was vielleicht erklärt, dass das „normale“ Altern in der Regel mehrere Organe gleichzeitig betrifft, im Gegensatz zum „pathologischen“ Altern, bei dem sich zeitabhängige Krankheiten an bestimmten Stellen frühzeitig manifestieren, und zwar in Form von zunächst isolierten kardiovaskulären, onkologischen oder neurodegenerativen Störungen.

Angesichts der Vielzahl an therapeutischen Strategien zur Verlangsamung, zum Aufhalten oder zur Umkehrung des Alterungsprozesses wird es interessant sein, Kombinationsbehandlungen zu testen, um den Nutzen zu maximieren und die Nebenwirkungen zu minimieren.

  1. Lopez-Otin C et al., Cell 2013; 153: 1194–217
  2. Kleine Gunk B, Privatarzt Gynäkol 2022; 13: 12–4
  3. Lopez-Otin C et al., Cell 2023; 186: 243–78
  4. Levine B, Kroemer G, Cell 2019; 176: 11–42
  5. Lipinski MM et al., Proc Natl Acad Sci USA 2010; 107, 14164–9
  6. Alsaleh G et al., eLife 2020; 9: e57950
  7. Cassidy LD et al., Nat Commun 2020; 11: 307
  8. Klionsky DJ et al., EMBO J 2021; 40: e108863
  9. Katsyuba E et al., Nat Metab 2020; 2: 9–31
  10. Yoshino M et al., Science 2021; 372: 1224–9
  11. Brakedal B et al., Cell Metab 2022; 34: 396–407.e6
  12. Chen AC et al., N Engl J Med 2015; 373: 1618–26
  13. Hirata T et al., Nat Commun 2020; 11: 3820
  14. Miller KN et al., Cell 2021; 184: 5506–26
  15. Desdin-Mico G et al., Science 2020; 368: 1371–6
  16. McNeil JJ et al., N Engl J Med 2018; 379: 1509–18
  17. Lopez-Otin C, Kroemer G, Cell 2021; 184: 33–63
  18. Zmora N et al., Sci Transl Med 2019; 11: eaaw1815
  19. Biagi E et al., Curr Biol 2016; 26: 1480–5
  20. Ghosh TS et al., eLife 2020; 9: e50240
  21. Boehme M et al., Nat Aging 2021; 1: 666–76
  22. Gladyshev VN et al., Nat Aging 2021; 1: 1096–106
  23. Palovics R et al., Nature 2022; 603: 309–14
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