Neue Therapiekonzepte bedeuten nicht automatisch neue Medikamente. Auch durch die Digitalisierung etablierter Behandlungspfade kann die Versorgung erheblich verbessert werden. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und Lösungen auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) bieten hier viele Möglichkeiten.
Die Medizin steht an der Schwelle zu einer neuen Ära: KI hat sich vom Buzzword zum konkreten Werkzeug entwickelt, das Diagnostik, Therapie und sogar die Medikamentenentwicklung revolutionieren könnte. In Gynäkologie und Geburtshilfe ist das Potenzial besonders groß. Das liegt einerseits daran, dass bildgebende Diagnostik hier eine herausragende Rolle spielt, andererseits aber auch an den vielen Routineprozessen wie Schwangerenvorsorge und Krebsfrüherkennung.
Gynäkologische Diagnostik und Vorsorge
Ein klassisches Beispiel ist der Pap-Abstrich zur Früherkennung von Zervixkarzinomen. Seit Jahrzehnten bewährt, wird dieser heute zunehmend durch automatisierte KI-basierte Auswertungsverfahren ergänzt. Studien zeigen, dass KI-gestützte Systeme signifikant mehr hochgradige zervikale intraepitheliale Neoplasien (CIN2+, CIN3+) detektieren können. Diese erhöhte Sensitivität geht mit einer erheblichen Zeitersparnis einher [1]. In den USA ist ein solches System bereits zugelassen.
KI-Algorithmen können maligne Läsionen mit hoher Treffsicherheit erkennen und sparen zudem Zeit.
Auch in der Brustkrebsfrüherkennung zeigt sich das Potenzial von KI deutlich. In der PRAIM-Studie, einem der größten europäischen Forschungsprojekte zur KI-gestützten Mammografie, wurde belegt, dass KI-Algorithmen in der Lage sind, maligne Läsionen mit hoher Treffsicherheit zu erkennen – in einigen Fällen sogar früher als erfahrene Radiologen bzw. Radiologinnen [2]. Gleichzeitig kann durch die Voranalyse von unauffälligen Aufnahmen die Arbeitslast für die Fachärzteschaft reduziert werden.
Ein weiteres Beispiel betrifft das Ovarialkarzinom, eine häufig späte diagnostizierte und prognostisch ungünstige Tumorart. Hier zeigt der Einsatz von Deep-Learning-Verfahren in der Sonografie vielversprechende Ergebnisse: KI kann in Echtzeit Bilder klassifizieren, Risikobewertungen vornehmen und so den klinischen Entscheidungsprozess beschleunigen – ein wichtiger Fortschritt, insbesondere vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in der Ultraschalldiagnostik [3].
Zudem existieren zunehmend Systeme, die verschiedene Datenquellen – von Laborwerten bis hin zu radiologischen Bilddaten – miteinander kombinieren, um multimodale Diagnostikmodelle zu erstellen. Solche KI-Anwendungen befinden sich derzeit in der klinischen Erprobung und könnten künftig eine zentrale Rolle in der personalisierten Gynäkologie spielen.
Trotz aller Erfolge ist der Einsatz von KI in der gynäkologischen Diagnostik noch nicht flächendeckend etabliert. Viele Systeme befinden sich in der Studienphase oder benötigen eine CE-Zertifizierung, um im europäischen Gesundheitsmarkt zugelassen zu werden. Gleichzeitig zeigen Pilotprojekte, dass die technische Machbarkeit längst gegeben ist – nun gilt es, auch rechtliche und praktische Fragen zu klären.
Gesundes Wunschkind dank KI?
In der Reproduktionsmedizin, der Schwangerenvorsorge und der Geburtshilfe kommt KI zunehmend zum Einsatz. In der IVF (In-vitro-Fertilisation) helfen Deep-Learning-Modelle dabei, die entwicklungsfähigsten Embryonen für den Transfer auszuwählen. Wearables, gekoppelt mit KI-Algorithmen, können Schwangerschaftsverläufe in Echtzeit analysieren, individuelle Risiken wie Präeklampsie frühzeitig erkennen und damit potenziell lebensbedrohliche Verläufe verhindern.
Das Kinderwunschkonsil (KIWUkons) hilft Frauenärztinnen und Frauenärzten, die Behandlung ungewollt kinderloser Paare vor Ort in ihren Praxen zu verbessern. Den beteiligten Reproduktionsmedizinern schafft das Konsil die Möglichkeit, im Bedarfsfall nach ausgereizter Therapie in der Basisversorgung direkt mit Maßnahmen der assistierten Reproduktion fortfahren zu können.
Auch nach Eintritt der Schwangerschaft gibt es hilfreiche digitale Tools. Ein Beispiel ist das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte Projekt PreFree. Es nutzt ein KI-basiertes System zur Identifikation von Risikoschwangerschaften, insbesondere zur Früherkennung von hypertensiven Schwangerschaftsstörungen. Ziel ist eine patientenzentrierte Fernbetreuung, die unnötige Klinikaufenthalte reduziert.
Dass das möglich ist, zeigt eine Studie der Uniklinik Münster. In der Studie gelang es, 59 % der grundsätzlich notwendigen Überweisungen in die Uniklinik zu vermeiden, da die Fragestellungen rein telemedizinisch gelöst werden konnten. Hierfür erfolgte innerhalb eines Netzwerks der Austausch und die gemeinsame Beurteilung von Ultraschallbildern und -Videos, z. B. im Zuge von Telekonsilen.
Apps mit und ohne Rezept
Zum Schließen von Versorgungslücken sind auch digitale Apps oft hilfreich. In Deutschland gibt es solche Versorgungslücken etwa bei der Betreuung von Frauen nach Fehlgeburten oder Frühgeburten. Die Fertia-App bietet wissenschaftlich fundierte und evidenzbasierte Informationen zu den Themenbereichen Stabilisierung einer Frühschwangerschaft, Fehlgeburtsprophylaxe sowie Maßnahmen zur Vorbeugung von Frühgeburten und integriert die emotionale Begleitung der Betroffenen.
Mit Apps können Patientinnen aktiv an ihrer Gesundheitsvorsorge teilnehmen.
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) gehen einen Schritt weiter. Sie sind vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen, auf Rezept erhältlich und zeichnen sich durch einen klaren medizinischen Nutzen aus. DiGA bieten Patientinnen die Möglichkeit, aktiv an ihrer Gesundheitsvorsorge teilzunehmen und fördern eine individualisierte Behandlung. Die Verschreibung von DiGA erfolgt extrabudgetär (GOÄ/GOP 01470, 18 Punkte), weder Heilmittel- noch Arzneimittelbudget werden belastet.
Solche Apps auf Rezept gibt es im Bereich der Gynäkologie, z. B. für die Indikationen Endometriose (Endo-App) und Vaginismus (HelloBetter Vaginismus). Beide enthalten Lernmodule zu den Kernthemen der jeweiligen Erkrankung und praktische Übungen (Entspannungs- und Bewegungsübungen, aktive Selbstmanagementmethoden). Auch für das in der Frauenarztpraxis immer wichtigere Thema Adipositas listet das DiGA-Verzeichnis beim BfArM 2 Apps auf Rezept: Oviva und Zanadio. Die Programme setzen den etablierten Behandlungsansatz der multimodalen Adipositastherapie digital um. Eine weitere DiGA, die noch in der Zulassung ist, hilft Patientinnen, die unter Harninkontinenz leiden – mit personalisierten Modulen zu Blasentraining, Beckenbodentraining, Miktionstagebuch und mentalem Training. Zur Betreuung von Patientinnen mit Mammakarzinom sind die DiGA Untire (Reduktion der Fatigue) und PINK! (Verbesserung des physischen und psychischen Wohlergehens) gelistet. Die Leitlinie von 2023 empfiehlt solche psychoonkologischen E-Health-Anwendungen [4].
Digitale Risiken und Nebenwirkungen
So groß das Potenzial, so real sind auch die Risiken. Sprachbasierte KI-Systeme können „Halluzinationen“ erzeugen – scheinbar plausible, aber faktisch falsche Informationen. Werden solche Fehler nicht erkannt, könnte dies direkte Folgen für Patientinnen haben. Deshalb betonen Experten wie Prof. Dr. med. Jakob Nikolas Kather (Dresden), dass KI-gestützte Systeme stets ärztlich kontrolliert bleiben müssen und nur mit kuratierten, validierten Datenquellen arbeiten sollten.
Darüber hinaus existiert ein unregulierter Schattenmarkt für KI-basierte Gesundheitsberatung, etwa bei psychischen oder gynäkologischen Beschwerden. Fehlberatung und fehlende Überprüfbarkeit sind dabei zentrale Gefahren. Ohne klare gesetzliche Rahmenbedingungen könnten auch seriöse KI-Lösungen an Vertrauen verlieren.
Ein weiteres zukunftsweisendes Feld ist die Arzneimittelentwicklung. Gerade in der Gynäkologie, z. B. bei Endometriose oder hormonabhängigen Karzinomen, wäre der Bedarf an innovativen, individuell angepassten Therapien groß. Doch hier zeigt sich auch das Datenproblem: Damit KI überhaupt valide prädiktive Modelle erzeugen kann, sind große, qualitativ hochwertige, offene Datensätze notwendig [5]. Diese fehlen oft. Proprietäre Datensilos und fehlende Standardisierung behindern den Fortschritt.
Die Digitalisierung und erfolgreiche Integration von KI in die gynäkologische Versorgung steht und fällt mit der Akzeptanz und Befähigung der medizinischen Fachkräfte. Eine Umfrage von Doctolib aus dem Jahr 2024 zeigt: Rund zwei Drittel der Ärztinnen und Ärzte halten KI für ein unverzichtbares Instrument der Zukunft – gleichzeitig äußern über 80 % den Wunsch nach gezielter Fortbildung. Besonders haftungsrechtliche Aspekte, ethische Fragestellungen und der sichere Umgang mit KI-gestützten Entscheidungshilfen bedürfen einer systematischen Schulung. Ärztliches Handeln bleibt auch im KI-Zeitalter unverzichtbar – doch es erfordert zusätzliche digitale Expertise, um Systeme kritisch zu hinterfragen, Ergebnisse einzuordnen und letztlich die Verantwortung für Therapieentscheidungen zu übernehmen. Fest steht: Künstliche Intelligenz wird kein Ersatz für die ärztliche Rolle sein, wohl aber ein Werkzeug für diejenigen, die bereit sind, sie kompetent zu nutzen.
Der Autor
Dr. rer. nat Wolfram Wiegers
Geschäftsführender Gesellschafter
health&media GmbH
Dolivostraße 9
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