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Gynäkologie

Neue Leitlinie

Diagnose und Therapie der Harninkontinenz der Frau

Dr. rer. nat. Reinhard Merz

25.10.2022

Harninkontinenz geht mit physischen, psychischen, sozialen und auch ökonomischen Folgen für die Betroffenen einher, wird aber viel zu selten angemessen diagnostiziert und therapiert. Seit Anfang 2022 adressiert jetzt eine S2k-Leitlinie die häufige Indikation „Harninkontinenz der Frau“.

Die aktuelle S2k-Leitlinie „Harninkontinenz der Frau“ bündelt erstmals alle Informationen zur Belastungsinkontinenz und überaktiven Blase/Dranginkontinenz, die bislang in getrennten Leitlinien dargestellt wurden [1]. Der Fokus liegt auf den diagnostischen Ansätzen und unterschiedlichen Therapieformen von Harninkontinenz. Die Empfehlungen beziehen sich auf die Therapie von erwachsenen Frauen im ambulanten sowie stationären Versorgungsbereich. Je nach Art der Erkrankung – Belastungsinkontinenz, Mischharninkontinenz oder Dranginkontinenz – wird zwischen konservativer, medikamentöser und operativer Therapie unterschieden. Große Registerstudien aus Norwegen berichten eine Inzidenz von 18,7 % für Harninkontinenz [2]. Sie wurde unterschieden in Belastungsharninkontinenz (46,6 %), Dranginkontinenz (15 %) und gemischte Harninkontinenz (33,9 %). Die Dranginkontinenz ist Teil des Syndroms der über­aktiven Blase mit dem Symptomenkomplex von ­Pollakisurie, Nyk­turie und imperativem Harndrang. Differenzialdiagnostisch muss die überaktive Blase von chronischen Harnwegsinfektionen, infravesikalen Obstruktionen, Urolithiasis und Blasentumoren abgegrenzt werden.

Diagnostik

Chronische Symptome sind häufig ein Hinweis auf kongenitale Anomalien, neurologische Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen, insbesondere Diabetes mellitus. Entscheidende Hinweise erhält man aus der Medikamentenanamnese, da zahlreiche ­Medikamente das Syndrom der überaktiven Blase verstärken oder auslösen können. Mittels strukturierter Fragebögen kann eine erste Einschätzung erfolgen, die durch das Führen eines Miktionstagebuches eine bessere Objektivierbarkeit erfährt. Unumgänglich ist die Harndiagnostik, um einen Harnwegs­infekt mit derselben Symptomatik auszuschließen:

• Urinsediment
• Urinstreifentest
• ggf. Urinkultur mit antibiotischer Austestung

In Zweifelsfällen ist eine urodynamische Abklärung angezeigt. Dabei werden registriert:

• Blasendruck, Abdominaldruck und deren Differenz (Detrusordruck)
• Harndrang, bei Erreichen der Blasenmaximalkapazität
• Blasencompliance (Dehnbarkeit und Volumen­toleranz)
• Vorhandensein unwillkürlicher Detrusorkontraktionen

Ergänzt werden kann die Urodynamik durch weitere Messmethoden wie Uroflowmetrie, simultane Zysto-Urethrotonometrie und Druck-Fluss-Messung.

Therapieformen

Die konservative Therapie erstreckt sich auf einfache klinische Maßnahmen und lebensstilbezogene Interventionen wie Koffeinreduktion, körperliche Aktivität, Gewichtsreduktion und individuelle Verhaltens- und Physiotherapie. Nach Erstellen eines Miktionstagebuches kann der erste Schritt zu einer Verhaltenstherapie gemacht werden. Dabei wird dieses Tagebuch dazu eingesetzt, die Miktionsintervalle zu verlängern. Unterstützend sind eine An- und Entspannung des Beckenbodens, sofern dies möglich ist. Hinzukommt das Toilettentraining, wobei der Entleerungsrhythmus der individuellen Blasenkapazität angepasst werden kann. Beim Beckenbodentraining kann in der Einzeltherapie durch entsprechend geschulte Physiotherapeuten ein besserer Umgang mit dem Harndrang erlernt werden. Diese Übungen können dann in Gruppentherapie fortgesetzt und in der Selbsttherapie intensiviert werden.

Je nach Ausprägung der Harninkontinenz wird der Einsatz von Arzneimitteln empfohlen. Die lokale Estrogenisierung ist ein unverzichtbarer, fester Bestandteil der urogynäkologischen Praxis, zumal bei der überaktiven Blase sehr häufig eine senile genitale Atrophie diagnostiziert wird. In Studien zur lokalen Estrogenisierung wurden gegenüber Placebo signifikant bessere subjektive Heilungs- und Verbesserungsraten erreicht.

Im Mittelpunkt der Pharmakotherapie stehen die Anticholinergika/Antimuskarinika als Mittel der ersten Wahl. Die Therapie wird als Mono- oder Kombinationsbehandlung mit oben genannter Alternative durchgeführt. In Deutschland stehen eine Reihe von Anticholinergika zur Verfügung. Der pharmakologische Wirkort der Anticholinergika sind die Muskarin­rezeptoren der Blasenwand, sowohl im Urothel als auch im Detrusor. Sie wirken parasympatholytisch am versorgenden parasympathischen N. pelvicus.

Die Inhibition des Muskarinrezeptors an der Blase bewirkt eine Hemmung des M. detrusor vesicae und verhindert damit unwillkürliche Kontraktionen, was zu einer verzögerten Blasenentleerung führt. Aufgrund der reichlichen Verteilung von cholinergen Rezeptoren im gesamten Organismus, muss an den verschiedensten Organsystemen mit un­erwünschten Nebenwirkungen gerechnet werden, die absolute und relative Kontraindikationen nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang sollte auf die übrige Medikation geachtet werden, da bestimmte Krankheitszustände sich verschlechtern können.

Operative Therapie

Führen konservative und medikamentöse Maß­nahmen nicht zum erwünschten Erfolg, sieht die Leitlinie individuelle operative Therapien vor. Die elektrische Neuromodulation erzielt im Vergleich zu Beckenbodentraining ohne und mit Biofeedback bessere Ergebnisse. Die Elektrostimulation der ­afferenten Fasern des N. pudendus kann via Beckenboden (vaginal, anal), transkutan segmental und nicht segmental erfolgen. Die intravesikale ­An­wendung von Botulinumtoxin A durch Injektionen in die Blasenwand kann bei therapieresistenter überaktiver Blase und hypersensitiver, hypokapazitärer Harnblase mit persistierendem imperativem Dranggefühl, Pollakisurie oder ­Nykturie und nicht tolerierbaren anticholinergen Nebenwirkungen ­eingesetzt werden.

Das Wirkprinzip der sakralen Neuromodulation (SNM) besteht in einer Aktivierung von somatischen afferenten Axonen in den spinalen Sakralwurzeln, die zu einer Modulation der sensorischen ­Prozesse und Beeinflussung des Miktionsreflexes führen. Die SNM ist die invasive Form der ­Elektromodulation, die damit näher an die Sakralnerven heranreicht. In seltenen Fällen sind als letzte Stufe der Therapie weitreichende invasive Eingriffe erforderlich.

1 AWMF S2k-Leitlinie 015-091: Harninkontinenz der Frau, Januar 2022
2 Hannestad YS et al., J Clin Epidemiol 2003; 53: 1150–1157

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