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Gynäkologie

S3-Leitlinie

Eine Leitlinie zwischen Qualitätsstandards und Patientinnenwunsch

Prof. Dr. med. Michael Abou-Dakn

10.2.2023

Wer glaubt, die „normale“ vaginale Geburt zum Termin sei eine unstrittige Sache, der irrt. Denn jenseits von publizierter Evidenz gibt es klare Wünsche der verschiedenen Berufsgruppen und natürlich auch der Schwangeren, wie sie sich die Entbindung vorstellen. Die erste deutsche S3-Leitlinie „Vaginale Geburt zum Termin“ versucht, diesen Spagat hinzubekommen.

Die erste S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ war durchaus ein Kraftakt zwischen den Hebammen- und den ärztlichen Verbänden sowie den Laienorganisationen der Frauen, denn es geht um die Entbindung ohne absehbare Risiken nach einer komplikationslosen Schwangerschaft [1]. Ziel war es, die hohe Qualität der Geburtshilfe in Deutschland zu erhalten, aber gleichzeitig die Zahl der Interventionen, wenn möglich, zu verringern. Das haben vielleicht nicht alle ganz verstanden, wie einige Kommentare dazu zeigen [2].

Die Leitlinie wurde unter den Regeln und durchgehender Begleitung der AWMF erstellt. Dazu wurden die international existierenden Leitlinien nach wissenschaftlichen Maßstäben bewertet. Hier war vor allem die NICE-Leitlinie aus dem UK relevant, die schon bei der Leitlinie zur Sectio als Basis gedient hatte [3]. Darauf aufbauend wurde eine neue Recherche angestoßen, deren Ergebnisse zusammen mit den Besonderheiten in Deutschland hier eingeflossen sind.

Besonderen Wert legt die Leitlinie auf den respektvollen Umgang miteinander und entsprechend ­wurde die partizipative Entscheidungsfindung herausgearbeitet. Das ist für die beratenden Frauenärzte durchaus eine Herausforderung, weil es immer darum geht, die Vor- und Nachteile eines Vorgehens zu diskutieren. Und eben nicht nur darum, das vermutlich sinnvollste Instrumentarium unreflektiert anzuwenden.

Aufreger CTG

Einer der großen Diskussionspunkte war die Bedeutung des CTG (Abb. 1). Hier sind die Ausführungen der NICE-Leitlinie und auch die internationalen Einschätzungen eindeutig – und etwas anders, als wir das in Deutschland bisher propagiert haben. In diesem Nicht-Risiko-Kollektiv hat das CTG nämlich keine allzu hohe Aussagekraft für die Vorhersage von Schäden für das Kind. Denn suspekte Befunde haben letztlich zu einer hohen Interventionsrate geführt, ohne hierdurch eine Verbesserung für die Gesundheit der Neugeborenen zu erzeugen.

Was gelegentlich als „Die Rückkehr vom CTG zum Pinard’schen Hörrohr“ bezeichnet wurde, beschreibt lediglich den Stellenwert der Auskultation [2]. Die Leitlinie verweist explizit darauf, dass dieses Vorgehen nur anwendbar ist, wenn man die Frau und damit das Schwangerschaftsrisiko kennt und eine 1 : 1-Betreuung möglich machen kann. Zu beachten  ist ferner, dass die Leitlinie nicht nur die klinische Entbindung abdecken soll, sondern auch im außerklinischen Setting Anwendung findet und somit ein minimaler Standard definiert wurde.

Wörtlich schreibt die Leitlinie dazu [1]: „Der Grund für den zurückhaltenden Einsatz des CTG im Niedrig-Risiko-Kollektiv ist die fehlende Evidenz hinsichtlich eines Nutzens bei einer höheren Rate an

vaginal-operativen Geburten im Vergleich zur intermittierenden Auskultation. Selbst in Hoch-Risiko-Kollektiven konnte keine Verbesserung des perinatalen Outcomes – abgesehen von einer Reduktion von Krämpfen im Neugeborenenalter – nachgewiesen werden.“

Unter dem Strich tun alle gut daran, noch einmal zu hinterfragen, ob in den vergangenen Jahrzehnten nicht vielleicht doch zu viele Interventionen durchgeführt wurden, weil das CTG irgendwelche Auf­fällig­keiten hatte – ohne dass es den Kindern glücklicherweise schlecht ging. Auch internationale Meta­analysen und aktuelle deutsche Lehrbücher weisen immer ­wieder auf die ungenügende Spezifität des CTG im Normkollektiv hin [4]. Ansonsten sollte das CTG nach dem aktuellen FIGO-Score bewertet werden.

Wann ist die Zeit gekommen?

Auch die Frage nach dem „richtigen“ Geburtsbeginn wurde in der Leitlinie neu bewertet. Wurden Frauen mit einem Anfangsbefund früher möglichst schnell in die Klinik geschickt, um kein Risiko einzugehen („Wenn Sie Wehen haben, gehen Sie ins Krankenhaus“), müssen wir das für dieses Nicht-Risiko-Kollektiv neu bewerten. Denn wenn Frauen zu früh aufgenommen werden, steigt ebenfalls die Zahl der Interventionen – ohne Vorteil für die Kinder.

Die Frauen sollten daher informiert werden, dass die eigentliche Geburt erst bei einer Öffnung des Muttermunds von 4 bis 5 cm beginnt [5]. Sie sollten in die Klinik gehen, wenn sie:

· das Bedürfnis dazu haben oder
· kräftige, regelmäßige Wehen haben und unsicher sind oder
· bei Blasensprung (zeitnah) oder
· Blutungen (sofort), ggf. auch liegend.

Zu den wichtigen Aufgaben der niedergelassenen Frauenärzte gehört es, die Frauen darüber zu informieren, dass in der frühen Latenzphase der Eröffnungsperiode kein Klinikaufenthalt notwendig ist – es sei denn, die Frau hat das Bedürfnis danach. Für die Zukunft stellt sich da generell die Frage: Wie können wir diese Frauen unterstützen, ohne sie bereits stationär aufzunehmen? Diskutiert werden Latenzhebammen oder geeignete Räumlichkeiten für diese Latenzphase. Zum Beispiel planen wir im St. Joseph Krankenhaus den Kreißsaalbereich um eine Art Lounge zu erweitern, in der die Frauen sich in dieser Phase aufhalten können und betreut werden.

Die Austreibungsphase hat ausgedient

Wir nennen die Austreibungsphase zukünftig Austrittsphase (AP). Abgesehen vom geänderten Terminus hält die Leitlinie fest, dass es auch in der Austrittsphase eine Latenzphase gibt. Die Eröffnungsphase endet mit der vollständigen Öffnung des Muttermunds, gefolgt von der Phase, in der sich der Kopf ins Becken bewegt und in Längsrichtung dreht. Hier gibt es noch eine Latenzphase, in der die Frau sich erholen kann und das haben wir bisher fast gar nicht berücksichtigt: War der Muttermund vollständig geöffnet, wurde oft nur noch das berichtet und die Zeiten hieran gemessen.

Auf Basis des IQWiG-Berichtes wird die Latenzphase innerhalb der Austrittsphase durch „regelmäßige kraftvolle Kontraktionen oder eine Wehenpause sowie einen vollständig eröffneten Muttermund in Abwesenheit von Presswehen/Pressdrang“ charakterisiert [5]. Die aktive Austrittsphase – im englischen Sprachraum als Push-Phase bezeichnet – ist dagegen so gekennzeichnet: „… ein aktiver Pressdrang bei vollständig eröffnetem Muttermund und tiefergetretenem vorangehenden Kindsteil zwischen den Spinae ischiadicae und dem Beckenboden.“ Darüber hinaus wird in der englischen Leitlinie auch das aktive Pressen ohne Pressdrang als ein Charakteristikum für die aktive Austrittsphase gesehen [3].

Die aktive Austrittsphase kann deutlich länger dauern, als wir bisher geglaubt haben – nach Studienlage ist eine Dauer von 1 bis 2 Stunden mit keinen Nachteilen für Mutter und Kind verbunden [6,7]. Die Leitlinie hält dazu fest: „Eine protrahierte AP wird diagnostiziert, wenn die Geburt in der aktiven Phase bezüglich der Rotation und/oder Tiefertreten bei einer Erstgebärenden über 2 Stunden und bei einer Mehrgebärenden über 1 Stunde inadäquate Fortschritte aufweist. Ein Geburtsstillstand in der AP wird diagnostiziert, wenn die aktive Phase der AP bei einer Erstgebärenden 3 Stunden und bei einer Mehrgebärenden 2 Stunden überschreitet.“

Für die Geburtshelfer bedeutet das erhöhte Aufmerksamkeit: Kommt es zum pathologischen CTG oder sind Fehlstellungen zu beobachten, müssen wir aktiv werden. Aber auch möglichst nur dann. Ansonsten darf man einfach abwarten. Es gibt dadurch nach Studienlage weder stärkere Blutungen noch eine höhere Sectio-Rate [8]. Wir haben eine hohe Chance, dass das Kind noch normal geboren wird – ohne ein hohes Risiko für die Mutter.

Die Leitlinie stellt auch fest, dass Wehenmittel erst relativ spät gegeben werden sollten. Die Gabe von Oxytocin verkürzt die Zeitdauer der Eröffnungsphase, ohne die Wahrscheinlichkeit einer vaginalen Geburt zu erhöhen. In Studien konnte auch kein Einfluss einer Oxytocin-Gabe auf die Häufigkeit eines auffälligen CTG oder auf die Kaiserschnittrate wegen eines auffälligen CTG gefunden werden [9,10]. In der ersten Phase sollte also auf Oxytocin verzichtet werden. Das Vorgehen in der aktiven Eröffnungsphase ist in der Leitlinie zu einem Algorithmus zusammengefasst (Abb. 2 auf Seite 10).

In der Klinik oder außerklinisch?

Ohne Frage gibt es den klaren Auftrag an Praxen und Kliniken, den Wunsch der Frauen noch stärker bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Eine Empfehlung zum Geburtsort – klinisch oder außerklinisch – gibt die Leitlinie nicht. Denn klar ist, sobald pathologische Befunde vorliegen, muss die Hebamme die Patientin in ärztliche Betreuung übergeben.

Bei Mehrfachgebärenden ohne Risiko in der Schwangerschaft ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie ärztliche Hilfe brauchen – doch leider ist das wirkliche Katastrophenpotenzial kaum zu stratifizieren. Die in der Praxis häufige Frage an betreuende Frauenärzte „Kann ich denn auch außerhalb der Klinik entbinden?“ ist deshalb nicht so einfach zu beantworten und bedarf aus ärztlicher Sicht weiterer in Deutschland durchgeführter Studien. Eine entscheidene Frage scheint hierbei die Anbindung der außerklinisch geplanten Geburt an ein nahes Zen­trum zu sein.

Denn im Zweifelsfall zählt jede Minute. Und die Frauen und Paare sollten auch wissen, dass die Verlegung in die Klinik relativ häufig ist.

FAZIT:

Für die Frauenarztpraxis ist es wichtig zu wissen, dass die aktuelle Leitlinie verstärkt zu „wait and see“ rät. Patientinnen können also durchaus von längerer Verweildauer in den verschiedenen Phasen berichten. Ob das Ziel erreicht wird, die Zahl der Inter­ventionen bei gleichbleibender Qualität zu reduzieren, bleibt abzuwarten. Die Leitlinie hat jedenfalls auch klar gemacht, dass wir im ärztlichen Bereich noch einen hohen Forschungsbedarf auch bei physiologischen Geburten haben.

1 S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“, www.awmf.org, Register-Nr. 015/083
2 Uphoff R, Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82: 1143–1193
3 National Institute for Health and Care-Excellence (NICE): Intrapartum Care. https://www.nice.org.uk/guidance/cg190/evidence/full-guideline-pdf-248734770
4 Al Wattar BH et al., CMAJ 2021; 193: E468–E477
5 IQWiG: Definitionen der Geburtsphasen. IQWiG-Berichte – Nr. 517, 2017
6 Myles TD et al., Obstet Gynecol 2003; 102: 52–58
7 Janni W et al., Acta Obstet Gynecol Scand 2002; 81: 214–221
8 Grobman WA et al., Obstet Gynecol 2016; 127: 667–673
9 Cardozo L et al., Obstet Gynecol 1990; 75: 152–157
10 Blanch G et al., Br J Obstet Gynaecol 1998; 105: 117–120

Bildnachweis: Arthit_Longwilai, Serhii Brovko (gettyimages)

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