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Gynäkologie

Auch in der Gynäkologie von Bedeutung

Geschlechtersensible Medizin

PD Dr. med. Ute Seeland

12.4.2024

Geschlechtersensible Medizin berücksichtigt die Unterschiede in der Prävalenz und Behandlung von Krankheiten sowie in der Reaktion auf Medikamente. Sie adressiert direkt die spezifischen gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen. Auch Mammakarzinome bei Männern oder Transfrauen sind ein wichtiges Thema in der Gynäkologie.

Frau ist nicht gleich Frau in der Medizin, denn der Einfluss der Sexualhormone während des Lebenszyklus führt zu spezifischen gesundheitlichen Herausforderungen. Es bietet sich daher an, zwischen prä-, peri-, postmenopausalen und schwangeren Frauen zu unterscheiden. Hinzukommen die transidenten Personen. Die Phasen des Menstruationszyklus führen intraindividuell zu weiterer Variabilität.Ein zentrales Element der geschlechtersensiblen Medizin ist die Anerkennung, dass Medikamente bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken können. Diese Unterschiede zu berücksichtigen, werden u. a. deutlich bei Medikamentennebenwirkungen oder veränderten Effektstärken bei den erwünschten Wirkungen in Abhängigkeit von dem Lebenszyklus bzw. dem Geschlecht. Zusätzlich zu den biologisch zu erklärenden Unterschieden kommen die soziokulturellen Einflussfaktoren (im Englischen: gender), die sich als Risikomodifikatoren z. B. über das Verhalten auf die Prognose einer Erkrankung auswirken.

Differenzierung nach Geschlecht lange vernachlässigt

Der weibliche Körper gilt als gut geschützt durch den höheren 17β-Estradiolspiegel bis zur Menopause. Auch ist die Lebenserwartung von Frauen in Deutschland höher als die der Männer. Ein differenzierterer Blick zeigt aber, dass z. B. der kardiovaskuläre Schutz bei Frauen überschätzt wird und die Letalität in der Postmenopause bei Frauen mit ischämischen Herzerkrankungen und Herzklappenerkrankungen höher ist als die bei Männern. Darüber hinaus ist die 30-Tage-Krankenhausletalität bei jüngeren Frauen mit akutem Herzinfarkt höher als die der gleichaltrigen Männer. Diese epidemiologischen Kennzahlen sind nicht neu und in anderen europäischen Ländern, den USA und Kanada ebenfalls zu beobachten.

In den 1980er-Jahren hatte die US-amerikanische Ärztin Marianne Legato zum ersten Mal den Blick auf bis dahin unbekannte oder nicht ernst genommene Symptome bei einem Herzinfarkt bei Frauen gerichtet. Heute ist bekannt, dass es sich bei diesem Beispiel nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um eine systematische Vernachlässigung einer ­wesentlichen Unterscheidung, die für differenzierte Merkmalsausprägungen in biologischen Systemen verantwortlich ist.

Bei der statistischen Auswertung wurde lange Zeit keine Differenzierung nach dem biologischen Ge­schlecht vorgenommen, und auch heute werden überwiegend die Daten zu Morbidität und Mortalität als Absolutzahlen bezogen auf 100 000 Einwohner dargestellt. Da der Erkrankungsbeginn, ­insbesondere bei den kardiovaskulären Erkrankungen, bei ­Frauen häufig 10 Jahre später liegt als bei ­Männern, ist hier eine Vergleichbarkeit, ohne das Alter als zweite wichtige Determinante bei der Ergebnisdarstellung zu berücksichtigen, schwierig.

In der täglichen Praxis werden mehr Männer als Frauen mit kardiovaskulären Erkrankungen diagnostiziert und behandelt, das gilt im Durchschnitt bis zum 85. Lebensjahr. Aber, die Wahrscheinlichkeit an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, unter der Bedingung, erkrankt zu sein, also die ­Letalität, ist bei Frauen beispielsweise höher bei chronisch-ischämischen Herzerkrankungen, Herzklappenerkrankungen und der Herzinsuffizienz im Vergleich zu Männern. Diese Daten werden oft nicht in den Publikationen dargestellt, sind aber wichtig, um die Frage nach den Einflussfaktoren zu beantworten, die möglicherweise etwa zu der erhöhten Krankenhaussterblichkeit bei Frauen < 60 Jahren mit akutem Myokardinfarkt führen.

Auch Diabetes, Haut- und Infektionskrankheiten betroffen

Im Laufe ihres Lebens erleben Frauen größere Hormonschwankungen und körperliche Veränderungen aufgrund von reproduktiven Faktoren als Männer. Schwangerschaften können bereits bestehende Stoffwechselanomalien aufdecken, was zur Diagnose von Schwangerschaftsdiabetes führt, ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Typ-2-Diabetes bei Frauen. Außerdem erhöht die Menopause das kardiometabolische Risikoprofil von Frauen.

Frauen scheinen zum Zeitpunkt ihrer Typ-2-Diabetes-Diagnose stärker mit Risikofaktoren belastet zu sein, insbesondere mit Adipositas. Außerdem könnte psychosozialer Stress eine größere Rolle für das Diabetesrisiko von Frauen spielen. Frauen mit Typ-2-Diabetes haben ein höheres relatives Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Sterblichkeit als Männer. Außerdem erhalten junge Frauen mit Typ-2-Diabetes derzeit seltener als Männer die in den Leitlinien empfohlene Behandlung und Senkung des kardiovaskulären Risikos [1].

Hauterkrankungen spielen in der Frauenarztpraxis schon deshalb eine wichtige Rolle, weil viele Hautveränderungen mit hormonellen Dysbalancen in Verbindung gebracht werden. Schon die Prävalenz von Hauterkrankungen zeigt erhebliche geschlechterspezifische Unterschiede. Im Allgemeinen sind psychische Hautkrankheiten und Erkrankungen, bei denen Autoimmunität eine große Rolle spielt, überwiegend weiblich. Gutartige und bösartige proliferative Dermatosen sind dagegen häufiger bei Männern anzutreffen [2].

Auch im Verlauf der Corona-Pandemie ließen sich bereits früh deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen. So zeigen Versorgungsdaten zur Hospitalisierung bzw. Aufnahme auf eine Intensivstation, dass die Wahrscheinlichkeit, während einer COVID-19-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt werden zu müssen, bei Männern höher ist als bei Frauen. Letztere sind dagegen häufiger von Langzeitsymptomen wie Long-COVID betroffen.

Klinische Studien haben gezeigt, dass ein wesentlicher Pathomechanismus, der zur Schädigung der Lunge führt, auf einer starken Abwehrreaktion des Immunsystems beruht. Der Zytokinsturm, also die potenziell lebensgefährliche Entgleisung des Immunsystems, scheint bei Männern unkontrollierter abzulaufen als bei Frauen, weil diese vermutlich von einer β-Estradiol-bedingten Hemmung profitieren. Allerdings belegt die geschlechtersensible Betrachtung der epidemiologischen Daten bei Frauen zwischen 15 und 60 Jahren eine um 15 % höhere Infektionsrate im Vergleich zu Männern. Das lässt vermuten, dass sich mehr Frauen im prämenopausalen Alter, also mit hohen Estrogenspiegeln, infizieren als gleichaltrige Männer.

Nicht nur die biologischen Unterschiede sind wichtig

Für das Eindringen des SARS-CoV-2-Virus in die Zelle ist das Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) verantwortlich, und das codierende Gen befindet sich auf dem X-Chromosom. Das legt nahe, dass ein Unterschied zwischen einer weiblichen Zelle besteht, die zwei X-Chromosomen besitzt, und einer männlichen Zelle mit nur einem X-Chromosom [3].

Den Einfluss solcher biologischer Unterschiede untersuchten die Klosterstudien. Die Klosterstudien bestehen aus 3 demografisch-epidemiologischen Forschungsprojekten und sind eine deutsch-österreichische Koproduktion [4]. Die Metaanalysen wurden anhand von weiblichen und männlichen Mitgliedern monastischer Ordensgemeinschaften erstellt und wiesen schon frühzeitig darauf hin, dass Männer aufgrund der biologischen Gegebenheiten, also des Y-Chromosoms anstelle des zweiten X-Chromosoms, einen Unterschied in der Lebenserwartung von einem bis höchstens eineinhalb Jahren weniger im Vergleich zu Frauen haben. Den größten Unterschied bedingen die sozialen und kulturellen Unterschiede.

Diese soziokulturellen Faktoren, die auf eine weibliche und/oder männliche Genetik treffen, sind entscheidend für die vielfältigen Phänotypen und ­Charaktere, die jeden einzelnen Menschen prägen. Daher beschäftigt sich die geschlechtersensible, personalisierte Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsfaktoren mit der Interaktion von soziokulturellen Determinanten (Gender) und dem biologischen Geschlecht (Sex). Das biologische Geschlecht wird dabei durch das X-Chromosom und das Y-Chromosom bestimmt. Autosomale Gene, epigenetische Modifikationen und die Sexualhormone tragen zur Ausprägung der Geschlechtsorgane sowie zum Geschlechterdimorphismus bei.

Der Begriff Gender hingegen ist ein Konstrukt, um das individuelle, nicht binäre, soziokulturelle Geschlecht zu beschreiben. Gender bezieht sich auf die sozial konstruierten Rollen, Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und sexuellen Identitäten. Um die Geschlechterunterschiede bei der Prävention von Erkrankungen bzw. bei deren zielgerichteter Behandlung im Praxisalltag nutzen zu können, sollten die wesentlichen Einflussfaktoren, die zur Erhaltung der Gesundheit und zur Entstehung von Krankheiten beitragen, systematisch erfasst werden (Tab.). Die Anamnese zum soziokulturellen Hintergrund beinhaltet vor allem Fragen zu: Bildung, Mehrfachbelastungen (ungenügende soziale Alltagsunterstützung), psychischem und physischem Stress, körperlichen Einschränkungen, Gesundheitskompetenz, sozialer und ökonomischer Deprivation, Misshandlung sowie Gewalterfahrung – und das nicht nur bei Frauen.

Gender-Data-Gap betrifft beide Geschlechter

Aufgrund des aktuellen Gender-Data-Gap bezogen auf fehlende Daten zum weiblichen Körper, werden zurzeit verstärkte Anstrengungen von allen Seiten unternommen, diese Daten zu erheben, und es entsteht der Eindruck einer „Frauenmedizin“. Diese Datenlücke kann sich aber genauso auf den männlichen Körper beziehen, etwa bei der Therapie der Osteoporose, der Depression oder von Brustkrebs. Von geschlechterspezifischer Forschung und geschlechtersensibler Medizin profitieren alle Geschlechter.

Extrem spannend sind die Einflüsse von geschlechterbezogenen und geschlechtsspezifischen Merkmalen auf die Gehirnentwicklung im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren. Geschlechtsbezogene Merkmale können die Gehirnentwicklung vor oder kurz nach der Geburt und während des gesamten Lebens beeinflussen. Obwohl die Erforschung der Zusammenhänge noch in den Anfängen ist, kennt man schon eine ganze Reihe von Faktoren, die hier eine Rolle spielen (Abb.) [5]. Hier gibt es einen Zusammenhang mit Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und anderen neurologischen Entwicklungsstörungen.

Transidente Menschen

Zu den weiteren Diversitätsfaktoren gehört beispielsweise auch die Einordnung der sexuellen Identität, sodass in diesem Zusammenhang zusätzlich von einem Geschlechterkontinuum gesprochen wird. Das Wissen um den Einfluss von geschlechtsbezogenen und geschlechterspezifischen Faktoren auf Wohlbefinden und Gesundheit ist von größter Bedeutung, insbesondere für neurodiverse Menschen, bei denen neurologische Entwicklungsstörungen mit ungleicher Geschlechterverteilung diagnostiziert werden. Für die medizinische Versorgung transidenter Personen sind besondere Kenntnisse erforderlich. Gefragt ist eine sehr differenzierte Abwägung bei der Behandlung bezogen auf das biologische Geschlecht und die Wirkungen der Sexualhormone während und nach einer hormonalen Transition.

Umsetzung im Praxisalltag

Auf dem Weg zu einer individuellen Medizin bildet die geschlechtersensible Medizin einen entscheidenden Meilenstein und die Grundlage für eine zunehmende Berücksichtigung von Diversität in der medizinischen Versorgung.

Hilfreich für den klinischen Praxisalltag ist es, an die Stoffwechselwege der Medikamente zu denken, den möglichen Einfluss des Sexualhormonstatus der Patientin zu berücksichtigen, Taillenumfang und Handkraft zu messen, um den Anteil von metabolisch aktivem Fett und die Muskelkraft einzuschätzen. Wichtig ist auch, auf die Art der Kommunikation zu achten, um sicher zu stellen, dass die Informationen auch aufgenommen und in das eigene praktische Handeln umgesetzt werden können.

Die geschlechtersensible Medizin beruht auf medizinischer Evidenz zu biologischen Geschlech­ter­unterschieden und dem Einfluss soziokultureller Determinanten. Auf dem Weg zu einer indi­viduellen Medizin bildet die Gendermedizin einen entscheidenden Meilenstein: Von einem biologisch einheitlichen Körperbild ohne Zyklus und Schwangerschaft zu einer geschlechterspezifischen, personalisierten Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsdomänen.

Die Autorin

PD Dr. med. Ute Seeland
Fachärztin für Innere Medizin, Gendermedizin DGesGM®
Geschlechtersensible Medizin in der Lehre und klinischen Forschung
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
Charité – Universitätsmedizin Berlin

ute.seeland@charite.de

  1. Kautzky-Willer A et al., Sex differences in type 2 diabetes, Diabetologia 2023; 66: 986–1002, DOI 10.1007/s00125-023-05891-x
  2. Lagacé F et al., The Role of Sex and Gender in ­Dermatology – From Pathogenesis to Clinical Implications, J Cutan Med Surg 2023; 27: NP1–NP36, DOI 10.1177/12034754231177582
  3. Seeland U et al., BMC Med 2020; 18: 369
  4. https://cloisterstudy.eu/COMMS/
  5. Bölte S et al., Sex and gender in neurodevelopmental conditions, Nature Reviews Neurology 2023; 19: 136–59

Bildnachweis: privat, Jolygon (gettyimages)

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