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Gynäkologie

Libido, Erregung, Orgasmus

Funktionelle Sexualstörung

Dr. med. Christiane von Holst und Dr. rer. nat. Reinhard Merz

12.11.2021

Sexualität umfasst körperliche, emotionale und soziologische Faktoren, die sich gegenseitig positiv und negativ beeinflussen. Funktionelle Sexualstörungen müssen daher häufig auch entsprechend multimodal therapiert werden.

Das gemeinsame Erleben von sexuellen Aktivitäten gehört zu den Grundpfeilern einer Paarbeziehung. Sexuelle Probleme haben daher ein erhebliches Potenzial, die Paarbeziehung zu belasten. Oft rufen sie sekundär weitere Paarprobleme hervor oder führen gar zur Trennung des Paares. Die Sexualität unserer Patientinnen sollte daher in der Praxis einen angemessenen Stellenwert einnehmen. Ein chronischer Mangel an emotionaler und körperlicher Zuneigung kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, psychische und physische Störungen mit Krankheitswert zu entwickeln [1]. Wir alle kennen Patientinnen mit unspezifischen abdominalen Beschwerden, Kopfschmerzen oder depressiven Verstimmungen, deren eigentliche Ursache in einem Konflikt mit dem Partner liegt. Mangelnde Sexualität gehört dann fast immer dazu. Nur ein kleinerer Teil der Patientinnen spricht sexuelle Probleme aber ungefragt an. Umso wichtiger ist es, dass Sie die Initiative ergreifen und das Gespräch, wenn nötig, in diese Richtung lenken. Bei der sexualmedizinischen Tätigkeit gilt es, in der frauenärztlichen Sprechstunde alle drei Dimensionen der Sexualität zu berücksichtigen (Abb. 1).

• Die Fortpflanzungsdimension, die bei Frauen auf die Zeit zwischen Menarche und Menopause beschränkt ist. Sie begegnet uns in der Praxis Tag für Tag, die Palette reicht von der Kontrazeptionsbehandlung zur Kinderwunschberatung. Erst die zuverlässige Schwangerschaftsverhütung seit Einführung der Pille vor 60 Jahren macht es Paaren – und natürlich v. a. den Frauen – möglich, sexuelle Lust und Fortpflanzung zu trennen und die Familienplanung aktiv zu gestalten.

• Die Lustdimension umfasst sexuelles Verlangen, Erregung und Orgasmus. Sie ist die Hauptmotivation, sexuelle Kontakte zu suchen. Sie ist zwar eng mit der Fortpflanzungs- und Beziehungsdimension verknüpft, kann aber anders als diese auch alleine funktionieren. Für viele Frauen ist Selbstbefriedigung nicht nur ein Ersatz bei fehlendem Partner, sondern kann auch innerhalb einer Beziehung als bereichernd erlebt werden.

• Die Beziehungsdimension ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der ­Sexualität, sondern bezieht viele andere Aspekte des Lebens wie Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit ein. Beziehungen sind in jeder Lebensphase von existenzieller Bedeutung und während der reproduktiven Phase eng an die Sexualität gekoppelt.

Werden diese Grundbedürfnisse auf längere Zeit nicht erfüllt, kann dies zu psychosomatischen Störungen führen, die sich z. B. in unklaren Bauchschmerzen, Rücken- oder Kopfschmerzen äußern können – alles häufig geklagte Erschei­nungen in der gynäkologischen Praxis. Umgekehrt kann die liebevolle Zuwendung durch einen Partner psychische und auch somatische Erkrankungen positiv beeinflussen. Auch dies sind Aspekte, die in der frauenärztlichen Sprechstunde im Gespräch mit der Patientin Erwähnung finden sollten.

Die Chemie der Lust

Nach dem Dual-Control-Modell besteht eine Balance zwischen lustfördenden und lusthemmenden Einflüssen [2]. Dadurch kommt es nicht zu einer unkontrollierten Suche nach Sexualpartnern, die adaptive Natur der sexuellen Hemmung schützt das Individuum gegen bedrohliche oder belastende Situationen. Dass Sex in erster Linie im Kopf stattfindet, gehört zum Allgemeinwissen – wird aber von vielen Patientinnen gerne vergessen. Die Reaktion auf eine sexuelle Stimulation findet vor allem im Hypothalamus und Teilen des limbischen Systems statt. Neurotransmitter wie Noradrenalin und Oxytocin stimulieren die sexuelle Erregung, Dopamin (DA) und Melanocortine fördern die Aufmerksamkeit und ­erhöhen so die sexuelle Appetenz (Abb. 2) [3]. Die Hemmung der sexuellen Erregung erfolgt durch endogene Opioide, die Endocannabinoide und das serotonerge System. Dies vollzieht sich meist am Ende des sexuellen Reaktionszyklus – dann, wenn die sexuelle Befriedigung und Sättigung eingetreten ist, insbesondere nach dem Auftreten mehrerer Orgasmen [3]. Eine Hemmung der sexuellen Erregung kann aber auch in anderen Situationen auftreten, etwa durch chronische oder aktuelle Stresssituationen.

Formen der Sexualstörung

Funktionelle Sexualstörungen sind Störungen der sexuellen Appetenz (Libido), der sexuellen Erregung und des Orgasmus (Tab. 1), die oft als „female sexual disorders“ (FSD) zusammengefasst werden. Sie haben per definitionem zwingend zur Voraussetzung, dass die Frau unter der sexuellen Störung leidet [4]. Die Häufigkeit variiert in der Literatur zwischen 14 und 60 %, oft auch abhängig von den Einschlusskriterien und der Befragungsmethode. Die PRESIDE-Studie in den USA mit mehr als 30 000 Frauen berichtete eine FSD-Rate von 44,2 % [5].

Störung der sexuellen Appetenz

Eine Störung der sexuellen Appetenz ist der Mangel oder der Verlust von sexuellem Verlangen, der zu einer seltenen Initiierung von sexuellen Kontakten führt [4]. Sie kann primär (lebenslang) oder sekundär (erworben) vorliegen, generalisiert oder situativ (d. h. bezogen auf einen bestimmten Partner oder eine Situation). Davon abzugrenzen ist die sexuelle Aversion, bei der die Vorstellung von sexuellen Kontakten mit negativen Gefühlen verbunden ist und Angst erzeugt. Bei der leichten Form der sexuellen Appetenzstörung besteht bei der Frau kein aktives ­Interesse an Sexualität. Sexuelle Kontakte werden aber durchaus als angenehm und lustvoll erlebt [1].

Die Störung der sexuellen Appetenz ist stets im biopsychosozialen Kontext zu sehen. Frauen berichten in der Praxis häufig, dass der Partner gerne noch Sex hätte, sie selbst aber nicht. Zur Klärung der Hintergründe ist oft schon die Frage ein guter Einstieg, wie das denn in sehr entspannter Umgebung ist, z. B. im Urlaub. Kommt es in entspannten Situationen leichter zur Erregung und zum Sex als im Alltag, ist in der Regel ein Mangel an Nähe der Auslöser für fehlende Lust. Der Empfehlung, für mehr intime Momente auch ohne Sex zu sorgen (z. B. mal wieder zusammen ins Kino zu gehen o. Ä.), stehen viele Frauen sehr offen gegenüber. Oft hilft es sogar schon, wenn die Frauen es perspektivisch schaffen, einen Abend die Woche für sich zu reservieren, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, um dann auch wieder mehr Interesse am Sex zu entwickeln. Die Formulierung „Sie müssen nichts – Sie dürfen“ wird von Frauen eigentlich immer verstanden und dann geht es eigentlich nur noch darum, sie dabei zu unterstützen, in der Beziehung für die eigenen Bedürfnisse zu kämpfen. Dem Partner verständlich zu machen, dass damit beide gewinnen, ist oft der Schlüssel für ein besseres Sexualleben.

Störungen der sexuellen Appetenz können in allen Altersgruppen auftreten, sind jedoch im jugendlichen Alter seltener. Eine nachlassende sexuelle Appetenz kann von der Dauer der Beziehung abhängen. Das muss nicht zwangsläufig zu einem stärkeren Leidensdruck führen, da die nachlassende Appetenz allmählich eintritt und in einer langdauernden Beziehung häufig andere Werte in den Vordergrund treten. Es ist jedoch nicht zwangsläufig so, dass eine lange Beziehung zu einer wesentlichen Abnahme der Libido führt. Eine Zunahme an Störungen der sexuellen Appetenz mit zunehmendem Alter ist u. a. auch durch die abnehmenden Serumspiegel von Testosteron zu erklären [1]. Viele Frauen setzen Sex auch mit Penetration gleich und meinen sie müssen das tun, weil der Mann das will. Ein Gesprächsalgorithmus zur Basisbeurteilung sollte deshalb alle sozialen und Lebensstilfaktoren (Stressmanagement, Medikamenten-, Alkohol- und Drogenkonsum, Depression), endokrine Faktoren (Hormonmangel, HRT), aber auch den weiten Bereich der psychischen Faktoren beinhalten. Was will ich eigentlich und was mache ich nur, weil mein Partner das möchte? Es gilt darum, mit der Patientin auszuloten, wie die Motivation für Veränderungen ist und gegebenenfalls entsprechende Schritte einzuleiten.

Störungen der sexuellen Erregung

Eine Störung der sexuellen Erregung ist die ständige oder wiederholt auftretende Unfähigkeit, ausreichende sexuelle Erregung zu erlangen oder aufrechtzuerhalten [4]. Sie ist bei der Frau im Gegensatz zum Mann (erektile Dysfunktion, ED) nur schwer objektivierbar. Vor allem die Schwellung der Genitalien sowie vaginale Feuchtigkeit und Lubrikation gelten als Anzeichen sexueller Erregung. Fehlen sie, ist von einer genitalen Erregungsstörung auszugehen [6]. Davon abzugrenzen ist die subjektive Erregungsstörung: Hier sind die genitalen Erregungszeichen vorhanden, jedoch fehlt das Gefühl einer Erregung. Die Frau ist subjektiv nicht erregt. Auch kombinierte genitale und subjektive Erregungsstörung sind relativ häufig [6]. Auch eine vermehrte Lubrikation kann von Patientinnen als belastend empfunden werden. Geht die Lubrikation mit einer persistierenden genitalen und ­klitorialen Erregung über mehrere Stunden oder Tage einher, handelt es sich um das Restless Genital Syndrome [7]. Der Leidensdruck entsteht durch die permanent vorhandene Erregung, die nicht mit einer adäquaten sexuellen ­Appetenz einhergeht und der keine Orgasmen folgen.

Ursache für Erregungsstörungen sind häufig psychische Faktoren, da der Erregungsaufbau bei Frauen sehr stark von Gefühlen und Fantasien abhängig ist und durch psychischen Stress empfindlich gestört werden kann. Eine große Rolle spielt der Partner, der unabhängig von äußeren Faktoren in eine positive oder negative Richtung beeinflussen kann. Erregungsstörungen treten rund um die Menopause gehäuft auf. Vor allem in der Postmenopause kommt es durch Estrogenmangel und vaginale Atrophie zu Lubrikationsstörungen, die Patientinnen klagen dann oft über eine trockene Scheide. Diese Scheidentrockenheit nimmt mit höherem Alter zu und kann beim Koitus zu Schmerzen führen, die sich wiederum negativ auf die sexuelle Appetenz und Erregung auswirken. Es beginnt ein Teufelskreis, der schließlich auch zu ­Störungen der sexuellen Appetenz und Erregung führt und die Partnerschaft ­beeinträchtigen kann.

In der Praxis sieht es dann so aus, dass Patientinnen häufig mit der Bitte kommen: „Bestimmen Sie doch mal meine Hormone – ich habe überhaupt keine Lust mehr auf Sex.“ Da ältere Frauen für eine Psycho- oder Paartherapie in der Regel nicht offen sind – und der Partner schon gar nicht –, kann man dann bestenfalls die trockene Scheide mit niedrig dosiertem Estriol therapieren und Gleitmittel ­empfehlen. Wenn Sie Gleitmittel empfehlen, müssen Sie auch die korrekte Anwendung mit der Patientin besprechen, denn sonst wird sie das wahrscheinlich tief in die ­Vagina einbringen, wo es am wenigsten nutzt. Das Gleitmittel gehört auf den Penis des Mannes – und auch das gemeinsame „Aufbringen“ kann durchaus dazu ­beitragen, die Sexualität zu verbessern. Bei manchen Frauen ist die Vagina durch jahrelange Enthaltsamkeit so verengt, dass eine sukzessive Vaginaldehnung helfen kann. Medizinische Dilatatoren muss man heute nicht mehr beim Apotheker um die Ecke kaufen, sondern kann sie auch anonym im Internet bestellen. Die mutige Ansprache von Tabuthemen wie Gleitmittel oder Dilatator durch den Arzt kann für die Patientin der Eisbrecher sein.

Orgasmusstörungen

Eine Orgasmusstörung ist die ständige oder wiederholt auftretende Schwierigkeit oder Verzögerung beim Erreichen eines Orgasmus bzw. dessen Ausbleiben nach ausreichender sexueller Stimulation und Erregung, die einen persönlichen Leidensdruck verursacht [4]. An der neuronalen Entstehung eines Orgasmus sind das limbische System, der Hypothalamus und der Mandelkern beteiligt sowie viele Neurotransmitter. Medikamente sowie Drogen-, Nikotin- und Alkoholabusus können das Orgasmuserleben beeinträchtigen. Die generalisierte Anorgasmie, bei der nie ein Orgasmus auftritt, ist eher selten [1]. Eine situativ bedingte Anorgasmie kann mit Konflikten, sexuellen Praktiken oder schlicht mit mangelnder Zeit verbunden sein. Situative Orgasmusstörungen ­führen nicht zwangsläufig zu einem Desinteresse an Sexualität, da die Erregung und damit auch die sexuelle Erlebnisfähigkeit vorhanden sind. Generalisierte Orgasmusstörungen sind eher selten. Ziel der Beratung ist es, die sexuelle Zufriedenheit zu fördern. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es immer zum Orgasmus kommen muss. Manche Frauen kommen durch orale oder manuelle Stimulation durch den Partner einfacher zum Orgasmus als beim vaginalen Koitus. Viele Frauen haben Orgasmusprobleme nur mit dem Partner, während bei Selbstbefriedigung nahezu immer ein Orgasmus erreicht wird. Dann ist Fantasie gefragt. Gerade bei jüngeren Patientinnen sind Orgasmusstörungen oft auch mit Erwartenshaltungen verbunden. Die allgegenwärtigen Pornos vermitteln leicht den Eindruck, als seien multiple Orgasmen bei jedem Geschlechtsverkehr das ­Normalste der Welt und die Patientin wundert sich dann, dass es bei ihr ganz anders aussieht. Ein schwieriges Thema sind sexuelle Vorfälle in der Vorgeschichte. Leider ist auch das Thema Missbrauch weitverbreitet und ein häufiger Grund für mangelndes sexuelles Interesse. Das zu thematisieren erfordert ein tiefes Vertrauensverhältnis zur Patientin. Gerade wenn Patientinnen auf Nachfragen angeben, auch kein Interesse an Selbstbefriedigung zu haben, muss man auch ein traumatisches Erlebnis in Erwägung ziehen.

1 Ahrendt HJ, Friedrich C, Sexualmedizin in der Gynäkologie, Springer-Verlag 2015
2 Bancroft J et al., J Sex Res 2009; 46: 121–142
3 Pfaus JG, J Sex Med 2009; 6: 1506–1533
4 Basson R et al., J Urol 2000; 163: 888–893
5 Shifren JL et al., Obstet Gynecol 2008; 112: 970–978
6 Giraldi A et al., J Sex Med 2013; 10: 58–73
7 Waldinger MD et al., J Sex Med 2009; 6: 2778–2787

Bildnachweis: sensationaldesign, chekat, Vectorig (gettyimages)

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