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Dermatologie

Nesselsucht

Aktualisierte Leitlinie Urtikaria

Dr. med. Andreas Kleinheinz

24.2.2023

Während viele dermatologische Praxen und Kliniken früher einen großen Bogen um Urtikaria-Patienten machten, zeigen die neuen Empfehlungen eine klare und vereinfachte Struktur für das Management dieser Erkrankung. Und die Ausblicke auf die therapeutische Zukunft sind rosig. Eine Erkrankung im Wandel der Wahrnehmung.

Die 2022 im Journal „Allergy“ veröffentlichte Leitlinie zum Thema Urtikaria ersetzt die alte Version aus dem Jahr 2018 [1]. Im Dezember 2020 nahmen 64 Urtikaria-Experten aus 31 Ländern an der Erstellung der aktuellen Version teil. Sie besprachen die Definition und Klassifizierung der Erkrankung sowie die zugrunde liegenden Ursachen, Auslösefaktoren, Komor­biditäten, die Erkrankungslast und das therapeutische Ansprechen der verschiedenen Urtikaria-Subtypen. Darüber hinaus enthält die Leitlinie Empfehlungen für den diagnostischen und therapeutischen „Work-Up“ der Erkrankung.

Definition und Einteilung der Urtikaria

Die Urtikaria ist charakterisiert durch die Entstehung von Quaddeln oder Angioödemen oder beidem. Abgegrenzt werden muss die Urtikaria von anderen Erkrankungen, bei denen diese Symptome auftreten können, wie einer Anaphylaxie, Autoinflammationssyndromen, einer Urtikaria-Vaskulitis oder von bradykininvermittelten Angioödemen einschließlich des hereditären Angioödems (HAE). Quaddeln sind charak­terisiert durch eine umschriebene, oberflächliche Schwellung variabler Größe und Form, in der Regel umgeben von einem Reflexerythem. Fast immer juckt es oder die Patienten empfinden eine brennende Missempfindung. Die Dauer der Quaddeln beträgt zwischen 30 Minuten und 24 Stunden.

Das Angioödem ist durch eine plötzliche, rötliche oder hautfarbene Schwellung in der unteren Dermis und Subkutis oder der Schleimhaut charakterisiert. Der Juckreiz steht im Hintergrund, es dominieren eher brennende, kribbelnde, manchmal schmerzende Missempfindungen und Spannungsgefühle. Im Gegen­satz zu Quaddeln bleibt das Angioödem oft einige Tage bestehen.

Die Dauer der Urtikaria definiert die Einteilung in die akute oder die chronische Form. Es ist kein ­naturwissenschaftliches Gesetz, sondern eine von Menschen gemachte Definition, die eine Urtikaria von weniger als 6 Wochen als akut und von mehr als 6 Wochen als chronisch bezeichnet. Dieser Unterschied kommt bei der Anwendung von Diagnostik- und Therapieprogrammen zum Tragen. Als zweites Differenzierungsmerkmal stehen sich die Begriffe „spontan“ und „induzierbar“ gegenüber, die auf vorhandene oder nicht vorhandene Aus­löser der Symptome verweisen.

Krankheitslast

Leider werden „die paar Quaddeln“ von vielen Menschen als eine lästige Randerscheinung mit einem geringen Krankheitswert abgetan. Es ist den Untersuchungen und Fragebogenaktionen der vergangenen Jahre zu verdanken, dass hier ein Umdenken stattgefunden hat: sowohl die objektive Funktionsfähigkeit als auch das subjektive Wohlbefinden sind deutlich beeinträchtigt und die Lebensqualität ist analog zu der bei einer koronaren Herzkrankheit vermindert.

Es sollte unbedingt immer auch explizit nach Schwellungen gefragt werden, denn Angioödeme stellen für die Patienten eine besondere Belastung dar, werden aber oft gar nicht mit einer Urtikaria in Verbindung gebracht. Die Häufigkeit von begleitenden Angioödemen bei Felduntersuchungen wird von Patienten viel höher eingeschätzt als von Ärzten [2].

Diagnostik und Bestimmung der Krankheitsaktivität

Auch wenn die Urtikaria in der Regel eine Blickdiagnose ist (wenn keine aktuellen Quaddeln vorliegen, hilft ein Handybild), kommt der genauen Anamnese – wie so oft in der Medizin – eine große Bedeutung zu. Es geht um die Abgrenzung gegenüber Differenzialdiagnosen, um die Eruierung möglicher Auslöser und um die Folgen der Urtikaria, z. B. auf die psychische Gesundheit. Fragebögen sind für die Anamnese­erhebung nützlich, sie sparen Zeit, und es werden keine Aspekte vergessen. Erfragt werden sollten auf alle Fälle Begleitsymptome und alle Begebenheiten, die sich im zeitlichen Zusammenhang mit den Quaddel­schüben ereignen: Fieber, Schmerzen, Krankheitsgefühl, Nahrungsmittel, Medikamente, Anstrengung, Sonne, Temperatur, Reibung, Stress, Aufenthaltsort. Der diagnostische Algorithmus ist in Abbildung 1 dargestellt.

Eine diagnostische Abklärung ist bei der akuten Form nicht erforderlich, für die chronische spontane Urtikaria (CSU) stellen die in der Abbildung 3 dargestellten „7 C“ ein empfohlenes Vorgehen dar. Zur Basisunter­suchung bei CSU gehören die Bestimmung von Differenzialblutbild, CRP und/oder BSG und in der spezialisierten Versorgung die Bestimmung von Gesamt-IgE und IgG-Anti-TPO sowie ggf. weiterer Biomarker. Ziel der letzteren Parameter ist es, die aktuell bekannten zwei Formen der Autoimmunität bei der CSU zu unterscheiden. Beim Typ I („autoallergische“ CSU) liegen IgE-Autoantikörper gegen Selbstantigene z. B. aus der Schilddrüse vor. Kommen diese mit zwei auf der Mastzelle gebundenen IgE-Antikörpern in Kontakt, kommt es wie bei einer Allergie zu einer Brückenbildung zwischen diesen beiden Molekülen und die Mastzelle wird aktiviert. Diese Aktivierung und die damit verbundene Degranulation der Mastzelle wird beim Typ IIb durch Autoantikörper ausgelöst, die direkt gegen die Oberfläche der Mastzellen gerichtet sind.

Die induzierbaren Formen der chronischen Urtikaria (CindU) werden durch Provokationen, am besten mit Schwellenwertbestimmungen, spezifiziert.

Bei allen chronischen Varianten der Urtikaria kommt der Bestimmung der Krankheitsaktivität eine große Bedeutung zu, da durch diese zum einen die Belastung für den Patienten gemessen werden kann, und zum anderen die Werte für den Therapeuten ein wichtiges Messinstrument sind, um den Erfolg oder Misserfolg der therapeutischen Maßnahmen zu überprüfen. Der Patient füllt zu Hause validierte Fragebögen wie den Urtikaria(UAS)- oder Angio­ödem(AAS)-Aktivitätsscore aus. Beim UAS werden Werte zwischen 0 und 3 einmal täglich für die Qualitäten Juckreiz und Quaddelanzahl vergeben, die Summe ergibt den Tages-Score; über eine Woche wird dann der UAS-7 ermittelt. Beim AAS werden Dauer und Stärke der Schwellungen sowie die dadurch ausgelösten Beeinträchtigungen bestimmt und zu einem AAS-Tageswert addiert, auch hier kann über eine Woche der AAS-7-Wert festgestellt werden. Mittlerweile lassen sich diese Werte sehr schnell und einfach mit einer Smartphone-App erfassen. Bei den Wiedervorstellungen in der Praxis/Klinik werden der Urtikaria-Kontrolltest (UCT) und der Angioödem-Kontrolltest (AECT) angewendet. Mit vier Fragen wird rückwirkend über die vergangenen vier Wochen der Grad der Krankheitskontrolle bestimmt, beim UCT ist bei 12 von 16 möglichen Punkten eine gute Kontrolle erreicht, beim AECT liegt die Schwelle bei 10 von 16 Punkten.

Therapie

Ziel der Behandlung ist eine komplette Kontrolle der Erkrankung, also ein UAS-7 von 0 bzw. ein UCT von 16. Dazu dienen die Suche nach und das Ausschalten von Ursachen, das Meiden von Auslösern, die Induktion einer Toleranz und schließlich die pharmakologische Behandlung nach dem Prinzip „so viel wie nötig und so wenig wie möglich“. Je nach UCT-Wert muss die Therapie angepasst oder kann weitergeführt werden (Abb. 2).

Nicht alle Ursachen bzw. Auslöser lassen sich eliminieren, daher kommt diesem Therapieprinzip bei den induzierbaren Formen der Urtikaria eine höhere Bedeutung zu als bei den spontanen Varianten. Auch die Toleranzentwicklung ist den induzierbaren Varianten (Kälte, cholinergisch, UV-Strahlung) vorbehalten, birgt aber erhebliche Akzeptanzprobleme (Kälte) als auch Schädigungspotenzial (UV-Strahlung). Ein starker Konsens besteht hinsichtlich des Absetzens von Medikamenten, wenn diese zu einer Verstärkung der Erkrankung führen.

Das Hauptaugenmerk richtet sich daher auf die symp­tomatische pharmakologische Behandlung. Ihr Ziel ist es, Patienten von Symptomen zu befreien, bis die Erkrankung spontan ausheilt. Das Therapieschema ähnelt dem der alten Leitlinie und beginnt mit der kontinuierlichen Gabe von H1-Antihistaminika der 2. Generation (Abb. 4). Sollte diese Therapie nicht ausreichen, kann die Dosis auf die 4-fache tägliche Menge gesteigert werden (Achtung: „off-label“, Patienten müssen darüber aufgeklärt werden). In beiden Fällen ist die kontinuierliche Therapie der Therapie bei Bedarf überlegen. Die Kombination von verschiedenen Antihistaminika der 2. Generation erzielt gegenüber der Dosiserhöhung eines Präparats keine besseren Resultate.

Die Anwendung von H1-Antihistaminika der 1. Generation ist aufgrund der sedierenden Eigenschaften dieser Präparate beim häufig beschriebenen Schlafmangel der Patienten verlockend. Diese Idee sollte aber in Analogie zu den Empfehlungen der WHO-Leitlinie ARIA verworfen werden, da diese Präparate die REM-Schlafphasen beeinträchtigen und daher zwar zu mehr, aber weniger erquicklichem Schlaf führen. Es gibt aufgrund mangelnder Daten keine Empfehlung für ein bestimmtes Antihistaminikum der 2. Generation.

Die dritte Stufe der Therapie besteht aus der zusätzlichen Gabe des Anti-IgE-Antikörpers Omalizumab. In der Standarddosierung von 300 mg s.c. alle 4 Wochen ist es für die CSU zugelassen, auch in der Langzeitbehandlung wirksam und sicher und kann nach Therapiepausen erneut erfolgreich reinduziert werden. Die Wirksamkeit wurde auch für die induzierbaren Varianten nachgewiesen, diese Anwendung erfolgt aber ebenso wie die gemäß Leitlinie mögliche Dosissteigerung auf maximal 600 mg alle 2 Wochen off-label und sollte daher vor Therapiestart beim Kostenträger beantragt werden. Bei nicht ausreichender Wirksamkeit von Omalizumab stellt die Anwendung von Ciclosporin A die Ultima Ratio dar; das Präparat ist nicht für die Urtikaria zugelassen. Aufgrund seiner immunsuppressiven Wirkung beeinflusst es die Freisetzung von Mastzellmediatoren. Bei Patienten mit arteriellem Hypertonus oder einer Nierenerkrankung ist die Indikation sehr zurückhaltend zu stellen. Auch bei diesem Präparat sollte eine sorgfältige Aufklärung erfolgen und eine Kostenübernahme beantragt werden.

Für Leukotrien-Antagonisten gibt es nur eine geringe Evidenz, topische Steroide zeigen fast keine Wirkung, auf systemische Steroide sollte wegen der Nebenwirkungen zumindest mittel- und langfristig verzichtet werden [3].

Die Erkrankungshäufigkeit von Kindern und Jugendlichen ist ähnlich hoch wie die von Erwachsenen [4]. Grundsätzlich gilt der gleiche Behandlungsalgorithmus wie bei Erwachsenen, mit der Einschränkung, dass altersbedingte Zulassungen und eine Gewichtsadaptation bei den Dosierungen berücksichtigt werden müssen. Omalizumab darf bei der Urtikaria ab einem Alter von 12 Jahren eingesetzt werden.

Auch in Schwangerschaft und Stillzeit gelten die o. g. Therapieprinzipien, auch wenn in vielen Fällen die Schwelle zum Einsatz von Medikamenten naturgemäß höher liegt als außerhalb der Schwangerschaft. Für die Antihistaminika werden Loratadin und Desloratadin sowie Cetirizin und Levocetirizin empfohlen. Auch wenn diese in geringer Konzentration in der Muttermilch zu finden sind, gilt die Empfehlung auch für die Stillzeit. Die Erhöhung der Dosis auf das Vierfache, die Applikation von Omalizumab (gilt als sicher, bisher kein Hinweis auf Teratogenität) und die Anwendung von Ciclosporin muss von Fall zu Fall auch in Rücksprache mit den behandelnden Gynäkologen diskutiert werden.

Neue Therapieoptionen

Das in den vergangenen Jahren in verschiedenen Studien sehr positiv bewertete Ligelizumab (Anti-IgE-Antikörper) wird aufgrund der Nicht-Überlegenheit gegenüber Omalizumab bei der CSU nicht weiter verfolgt. Mit anderen in der Entwicklung befindlichen Therapieoptionen werden Mastzellen entweder gehemmt (Brutons‘ Tyrosinkinase = BTK-Inhibitoren) oder ihre Anzahl reduziert (Anti-KIT-Antikörper). Damit können auch die mit dem bisherigen Therapieschema eher unterdurchschnittlich gut behandelbaren Formen der CSU wie der Typ IIb besser kontrolliert werden, ebenso die induzierbaren Urtikaria-Formen.

FAZIT:

Der klinische Verlauf von Patienten mit CSU und CindU lässt sich mit den in der neuen Leitlinie aufgestellten Empfehlungen effektiv und positiv beeinflussen. Der Algorithmus ist eingängig und erfordert vor allem die Anwendung von Messgrößen für die Krankheitsaktivität, damit die Therapie entsprechend angepasst werden kann.

Der Autor

Dr. med. Andreas Kleinheinz
Facharzt für Dermatologie und Venerologie
Chefarzt der Klinik für Dermatologie und Ärztlicher Direktor Allergiezentrum, Dermatologisches Zentrum Buxtehude

andreas.kleinheinz@elbekliniken.de

1 The international EAACIGA²LENEuroGuiDerm APAAACI guideline for the definition, classification, diagnosis, and management of urticaria. Zuberbier T et al Allergy. 2022 Mar;77(3)734–766
2 Sussmann et al., Angioedema in chronic spontaneous urticaria is underdiagnosed and has a substantial impact: Analyses from ASSURE-CSU Allergy 2018: 73; 1724–1734
3 Elsner P et al., Tod durch Sepsis nach längerfristiger hochdosierter Glukokortikosteroid-Therapie einer Urtikaria Aktuelle Dermatologie 2020; 46(12): 532–540
4 Staubach P et al Epidemiology of urticaria in German children. JDDG. 2021 Jul;19 (7):1013–19.
5 AWMF-Register-Nr.: 013-028, 2022, Klassifikation, Diagnostik und Therapie der Urtikaria

Bildnachweis: Sylverarts (gettyimages); privat

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