- Anzeige -
Fokus Naturmedizin

Onkologie

Neue S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin

Dr. rer. nat. Reinhard Merz

24.11.2021

Die neue S3-Leitlinie gibt Empfehlungen zum Einsatz komplementärmedizinischer Verfahren in der Behandlung von onkologischen Patienten. Das im Juli 2021 final publizierte Werk ermöglicht es erstmals, häufige Patientenfragen zu komplementären und alternativen Methoden (KAM) evidenzbasiert zu beantworten.

Etwa die Hälfte aller Tumorpatienten nutzen ­während oder nach ihrer Krebstherapie Angebote der Komplementär- oder Alternativ-Medizin (KAM). Da es unterschiedliche Definitionen gibt, ist es schwierig, eine Antwort auf die Frage nach Fakten zum Thema zu geben. Im Rahmen der Dekade gegen den Krebs wurde das Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie (kurz: KOKON) ins Leben gerufen, in dem Universitätskliniken, ­Kliniken und wissenschaftliche Institute Evidenz zu den unterschiedlichsten Methoden zusammen­getragen haben. Vorbild war das US-amerikanische National Center for Complementary and Integrative Health (NCCIH), das schon seit Jahrzehnten gezielt Methoden der komplementären Medizin prüft und darüber informiert, was man bei der Auswahl ­komplementärer Methoden berücksichtigen sollte und welche Mythen sich bereits als falsch herausgestellt haben.

Auf Basis der Evidenz wurde jetzt im Juli 2021 die erste S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der ­Behandlung von onkologischen PatientInnen“ veröffentlicht – als 630 Seiten starke Langversion und 186-seitige Kurzversion [1]. Erarbeitet wurde die Leitlinie unter Federführung von DKG (Deutsche Krebsgesellschaft), DGHO (Deutsche Gesellschaft für ­Hämatologie und Onkologie), DGGG (Deutsche ­Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) und DGRO (Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie). Sie umfasst Empfehlungen und Kommentare zu vier thematischen Blöcken, die im Folgenden vorgestellet werden sollen und die der in Leitlinien üblichen Graduierung von Empfehlungen folgt:
• starke Empfehlung „soll“ (oder „soll nicht“)
• Empfehlung „sollte“ (oder „sollte nicht“)
• neutrale Beurteilung („kann erwogen werden“)

Medizinische Systeme: Von Akupunktur bis TCM

Der erste Block heißt Medizinische Systeme (whole medical systems). Darunter werden ganzheitliche ­Behandlungsmethoden beschrieben, die sich durch eine die konventionelle Medizin meist ­ergänzende eigene medizinische Krankheits- und Behandlungstheorie auszeichnen. Dieses Kapitel umfasst die ­klassischen Naturheilverfahren, Akupunktur und ­Akupressur aus der traditionellen chinesischen ­Medizin, die ­anthroposophische Medizin und ­die Homö­opathie.

Die Akupunktur ist in der Onkologie eine Supportivtherapie, die tumor- oder therapiebedingte Symp­tome behandelt. Die Leitlinie hat Übersichtsarbeiten und einzelne klinische Studien dazu ausgewertet und empfiehlt Akupunktur mit dem Empfehlungsgrad „sollte“ in der Schmerztherapie bei Tumorschmerzen sowie bei Gelenkschmerzen durch Aromatase-Inhibitoren. Für eine ganze Reihe anderer Symptome gibt es die neutrale „Kann erwogen werden“-Formulierung, die einen Einsatz auf Basis individueller Patienten­wünsche ermöglicht. Die anderen Methoden aus dem Bereich der Medizinischen Systeme kommen generell nicht über eine neutrale Einordnung hinaus.

Dazu gehört auch die Homöopathie. Die Leitlinie schreibt in Empfehlung 4.25: „Es liegen Daten aus einer RCT zum Einsatz von klassischer Homöopathie vor. Diese Erstanamnese in Kombination mit individueller Mittelverschreibung kann zur Verbesserung der Lebensqualität bei onkologischen Patienten zusätzlich zur Tumortherapie erwogen werden.“ Die ­Betonung liegt hier auf „zusätzlich zur Tumortherapie“.

Bei den ganzenheitlichen Methoden erhielt nur die Akupunktur eine "sollte"-Empfehlung.

Mind-Body-Verfahren: Yoga hilfreich bei Fatigue

Der zweite Block beschäftigt sich mit den Mind-Body-Verfahren. Sie haben ihre Wurzeln in der ­Verhaltens- und Schmerzmedizin, der endokrinologischen Stressforschung sowie der Psychoneuroimmunologie. Die Interaktion zwischen Psyche, ­Verhalten und Immunsystem soll genutzt werden, um die somatische Begleitsymptomatik supportiv zu behandeln [2]. Die Leitlinie listet explizit Meditation, Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR), multimodale und integrative Verfahren, Tai Chi und Qigong sowie Yoga.

Empfehlungen der Empfehlungsstärke „sollte“ erhielten aus diesem Block die Indikationen Ein- und Durchschlafstörungen während und nach Abschluss von Chemo-/Radiotherapie und Fatigue während und nach Abschluss von Chemo-/Radiotherapie. Auch Yoga wird für die Behandlung der Fatigue mit dem Empfehlungsgrad „sollte“ bewertet.

Körpertherapien: Finger weg von Bioenergiefeld-Therapien

Manipulative Körpertherapien sind Thema des ­dritten Blocks: Sie reichen von Bioenergiefeld-Therapien wie Reiki über Chirotherapie/Osteopathie/Cranio-Sakral-Therapie, Hypertherapie, Reflextherapie bis zu schwedischer Massage und Shiatsu. Besonders schlecht kommen bei der Bewertung die Bioenergiefeld-Therapien weg. Für die vier Symptombereiche Depressivität, Fatigue, Schmerzen und Übelkeit lagen ausreichend Studien für eine ­Bewertung vor und bei allen vieren lautet diese: „Bioenergiefeld-Therapien sollten nicht zur Beeinflussung der genannten Endpunkte empfohlen werden“ (Empfehlungen 6.1–6.4).

Besonders hervorzuheben ist der Abschnitt über Sport und Bewegung. Hier umfassen die Wirksamkeitsnachweise eine Vielzahl an Entitäten und Behandlungszeitpunkten. Das gilt sowohl für das ­Management therapiebedingter Nebenwirkungen als auch bezüglich der Prophylaxe von Langzeitkomplikationen durch kardio-, neuro- und knochentoxische Medikation [3].

Regelmäßige körperliche Betätigung ist in allen krankheits- und Behandlungsphasen des onkologischen Versorgungskontinuums von Vorteil.

Neben diesen physiologischen Benefits zeigt ­Bewegung einen positiven Effekt auf die hochprävalente Fatigue-Symptomatik sowie die psychische Belastung von Patienten, insbesondere im Hinblick auf Depressivität und Ängstlichkeit. Auch die körperliche Funktionsfähigkeit kann durch ein regelmäßiges Training verbessert oder zumindest stabilisiert werden. Mit regelmäßiger Bewegung können Betroffene somit selbst aktiv zu einer besseren Verträglichkeit der onkologischen Therapien und einer Steigerung ihrer Lebensqualität beitragen [4]. Demzufolge spricht die Leitlinie eine starke Empfehlung für eine Sport- und Bewegungstherapie bei mehreren Symptomatiken aus (Tab. 1)

Biologische Therapien: Mistel für weniger Nebenwirkungen

Im vierten thematischen Block geht es um den Einsatz biologischer Therapien: Vitamine, Mineralstoffe, ­sekundäre Pflanzenstoffe und spezielle Ernährungsweisen wie die ketogene Diät. Hier gibt die Leitlinie an, dass Vitamin- und Spurenelementprodukte nur bei der Indikation eines Mangelzustands verabreicht werden sollen, und verweist ansonsten auf die S3-Leitlinie „Klinische Ernährung in der Onkologie“ [5].

Interessant liest sich die Evidenz zu Phytotherapeutika allgemein und speziell zu Mistelpräparaten – schlicht aufgrund der häufigen Verwendung. Die Misteltherapie wird sowohl in der adjuvanten als auch in der palli­ativen Situation eingesetzt, in Kombination mit einer konventionellen Therapie oder in der Nachsorge als alleinige Therapiemaßnahme, hauptsächlich zur Verbesserung der Lebensqualität und Verminderung systemtherapeutisch bedingter Nebenwirkungen.

Mistel-Lektine sind zuckerhaltige Proteine. Sie ­bestehen aus einer A- und einer B-Kette, die über Disulfidbrücken miteinander in Verbindung stehen. Die A-Kette ist für die zytostatische Wirkung verantwortlich, die B-Kette vermittelt den Kontakt zur Zielzelle. Angesichts ihrer Fähigkeit, das Immunsystem durch die Induktion verschiedener Zytokine und die Aktivierung von Lymphozyten, Granulozyten und Phagozyten zu stimulieren, wird die Mistel als Biological Response Modifier eingestuft.

Die Diskussion zur Studienlage war lange eine unendliche Geschichte und so ist es begrüßenswert, dass die Leitlinie hierzu ebenfalls Stellung bezieht – wenn auch mit Einschränkungen. Wörtlich heißt es dazu: „Die Heterogenität der Präparate, die verschiedenen Therapieziele, die Vielfalt der Indikationen in Bezug auf die maligne Grundkrankheit, diverse Therapieformen sowie die Unterschiede in Kontext und Qualität der klinischen Studien erschweren die Bewertung der Wirksamkeit der Misteltherapie.“ Die daraus abgeleiteten Empfehlungen sind in Tab. 2 zusammengefasst.

Worauf die Leitlinie auch hinweist: Problematisch wird der Einsatz einer KAM vor allem dann, wenn Patienten deswegen eine Standardtherapie abbrechen oder nicht wahrnehmen. Ärzte sollten ihre ­Patienten früh und regelmäßig zur Anwendung von komplementären Maßnahmen befragen und dabei auf mögliche Interaktionen zwischen diesen Anwendungen und der Krebstherapie hinweisen. Die Leitlinie enthält einen praktischen Fragebogen, um ­diese Informationen zu erheben.

FAZIT:

Die Leitlinie soll für alle in der Onkologie tätigen Ärzte und Therapeuten ein präzises Nachschlagewerk darstellen. Sie fasst die bislang vorliegende Evidenz übersichtlich zusammen und macht es so möglich, Fragen von Krebsbetroffenen evidenzbasiert zu beantworten, konkrete Empfehlungen auszusprechen und auch konkret vor Maßnahmen zu warnen.

1 S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen, Version 1.0 – Juli 2021; AWMF-Registernummer: 032/055OL
2 Cramer H et al., FORUM DKG 2017; 32: 406–410
3 Christensen JF et al., Comprehensive Physiol 2011; 9: 165–205
4 Wiskemann J et al., TumorDiagn Therap 2020; 41: 306–310
5 S3-Leitlinie Klinische Ernährung in der Onkologie. Aktuel Ernahrungsmed 2015; 40: e1–e74

Bildnachweis: FarbaKolerova, msan10 (GettyImages)

Lesen Sie mehr und loggen Sie sich jetzt mit Ihrem DocCheck-Daten ein.
Der weitere Inhalt ist Fachkreisen vorbehalten. Bitte authentifizieren Sie sich mittels DocCheck.
- Anzeige -

Das könnte Sie auch interessieren

123-nicht-eingeloggt