Die Geburtshilfe befindet sich im Umbruch – organisatorisch, aber auch medizinisch. Der Bogen reicht vom Hebammen-geführten Kreißsaal bis zur molekulargenetischen Analyse. Und beim Qualitätsmanagement sollten wir uns an den Standards der Luftfahrt orientieren, findet Prof. Dr. Holger Maul.
Prof. Dr. med. Holger Maul
Chefarzt Asklepios Kliniken Hamburg Barmbek, Wandsbek und Nord-Heidberg sowie Asklepios Campus der Semmelweis Universität Budapest
Welche aktuellen Trends beobachten Sie derzeit in der klinischen Geburtshilfe in Deutschland?
Wir werden eine zunehmende Zentralisierung von Geburtshilfeabteilungen beobachten, gerade in meinem Fachgebiet bei den Perinatalzentren und den gynäkologisch-onkologischen Zentren. Geburtshilfeabteilungen in den kleinen Krankenhäusern werden bei den gestiegenen Qualitätsanforderungen und den Erwartungen der Patientinnen so nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Da können alle schimpfen und sagen, wir brauchen nur mehr Geld. Irgendwann wird aber auch der Letzte verstanden haben, dass eine Geburt ohne sofortige kinderärztliche Versorgung und ohne sofortige Verfügbarkeit eines Anästhesisten und Gynäkologen in Deutschland keine sinnvolle Zukunft hat.
Inwiefern hat die Digitalisierung – z. B. durch Telemedizin oder digitale CTG-Systeme – Ihren klinischen Alltag verändert?
Die hat den klinischen Alltag noch viel zu wenig verändert und das bei steigenden Anforderungen an Dokumentation und Qualitätsmanagement. Und da muss man einfach nüchtern und bedacht sagen: Ganz, ganz vieles muss komplett digitalisiert werden. Aktuell gibt es viele Hinderungsgründe: Datenschutzrecht, wo wird es gespeichert und wann hören die Amerikaner oder die Chinesen mit? Für all diese Fragen müssen wir Lösungen finden und entsprechend eine moderne Infrastruktur aufbauen. In unserer Klinik haben wir digitale CTG-Systeme, wir haben zentrales Monitoring, zentrale CTG-Speicherung, wir haben Echtzeitsuche von allen PCs auf die kompletten Akten. Es gibt bei uns kein Papier mehr in der Geburtshilfe.
Sehen Sie in der Anwendung künstlicher Intelligenz oder maschinellen Lernens weiteres Potenzial zur Verbesserung der Geburtsprognostik und -planung?
Ganz sicher, wenn Sie allein sehen, was die neuen Ultraschallgeräte an KI an Bord haben. Sie fahren mit dem Ultraschallkopf einmal über den Bauch der Mutter, das können Sie auch ohne jegliche Vorkenntnisse, also auch jemand, der noch nie geschallt hat, machen. Dann fahren Sie nochmal über den Bauch und dann haben Sie die 16 Bildebenen abgelegt, inklusive Beschriftung und der kompletten Messung. Das geschieht wirklich wie von Geisterhand. Was momentan noch mühselig ist und 30 Minuten dauert, kann dann in 3 Minuten durch jemanden mit geringen Vorkenntnissen erfolgen. Man kriegt freie Valenzen für ganz andere Themen.
Welche Rolle spielen personalisierte pränatale Diagnostik und molekulargenetische Verfahren aktuell bei der Risikostratifizierung in der Schwangerschaft?
Der NIPT wird sich weiterentwickeln. Heute testen wir auf die Trisomien 13, 18, 21, möglicherweise auch das D-Antigen oder die Geschlechtschromosomen. Das wird sich natürlich weiter verfeinern. In absehbarer Zeit werden wir wahrscheinlich ein „Whole Genome Sequencing“ über NIPT auslesen können, da wird eine ganze Menge von neuen Informationen auf uns zukommen. Der heutige NIPT ist eigentlich nicht mehr als eine Machbarkeitsstudie. Wir entdecken genetische Syndrome, die bisher keiner kannte. Wir hatten vor einiger Zeit ein Kind, das kurz nach der Geburt verstarb, weil es nicht zu beatmen war und wir standen vor einem Rätsel. Die Pathologie konnte keine Auffälligkeit diagnostizieren. Schließlich entdeckten wir aufgrund der molekulargenetischen Analyse eine extrem seltene Form einer Ziliopathie. Wir hätten tun können, was wir wollten: Dieses Kind war gar nicht zu beatmen.
Welche Fortschritte gibt es bei der Prävention von Frühgeburten oder Präeklampsie?
Auch da tun sich viele neue Möglichkeiten auf. Ich persönlich bin kein Freund des Präeklampsie-Screenings, sehe hierin nicht viel mehr als eine Machbarkeitsstudie. Wenn das funktioniert, funktionieren in absehbarer Zeit auch andere Dinge, wir brauchen dann nur bessere Marker. Jede Maßnahme, die dabei hilft, individueller zu therapieren, ist erst einmal positiv zu bewerten. Denn so wie bisher „alle bekommen die gleiche Medizin“, ist nicht mehr zeitgemäß. Die größte Herausforderung wird darin bestehen, Ressourcen in der Medizin zielgerichtet einzusetzen. Also nicht alles für alle, sondern das Richtige für den Einzelnen. Aber eben nur für diesen. Hierin liegt ein unglaubliches Potenzial. Und natürlich darf die Risikostratifizierung nicht teurer werden als die Therapie. Das ist beim bisherigen Präeklampsie-Screening leider der Fall.
Welche Entwicklungen brauchen wir in Bezug auf geburtshilfliche Outcome-Parameter und das Qualitätsmanagement?
Heute haben wir Hebammen, die akademisiert sind, aber die gleiche Tätigkeit ausführen wie bisher. Wir brauchen Hebammen, die spezialisiert sind auf die Betreuung von Hochrisikograviden, auf die Betreuung von Frauen mit Frühgeburt, Präeklampsie oder schweren Blutungen. Die wirklich auch in medizinisch anspruchsvollen Bereichen kompetent sind und einen medizinischen Blick der Dinge haben.
Und ich bin ein strikter Gegner eines Systems, das aufgrund von Personalmangel immer wieder auf nicht-eingearbeitete Honorarärzte zurückgreifen muss. Es kann nicht sein, dass wir Strukturen für Sicherheit aufbauen und Vorgaben machen und dann kommt irgendein Arzt zum Dienst, den noch nie jemand gesehen hat und der mit den Prozessen der Klinik in keiner Weise vertraut ist. So läuft das aber momentan, das ist Realität in fast allen deutschen Kliniken. Wenn wir wirklich gute Medizin haben wollen, reicht es nicht, wenn der G-BA sagt, da muss einer mit der Schwerpunktbezeichnung Perinatologie verfügbar sein - nur, um einmal ein Beispiel zu nennen. In der Fliegerei würde kein Mensch auf die Idee kommen zu sagen, der ist doch Pilot, der fliegt jetzt den A380, auch wenn er sonst immer Boeing 737 fliegt. In der Medizin kommt man nur deswegen auf die Idee, weil der Arzt und die Hebamme nicht das gleiche Risiko wie ihre Patientinnen haben – ganz anders als das bei Piloten der Fall ist. Die stürzen nämlich mit ab.