Seit mehr als vier Jahren ist in Deutschland die Verordnung von medizinischem Cannabis, Cannabisblüten und -extrakten sowie von cannabisbasierten Arzneimitteln auf Rezept möglich ‒ trotz einer fehlenden Zulassung. Im Jahr 2022 steht die finale Auswertung der gesetzlich geforderten Begleiterhebung an, zu der alle Ärzte verpflichtet sind, die medizinischen Cannabis verschreiben.
Etwa zwei Drittel der 10.000 dort dokumentierten Patienten berichten über positive Effekte nach einem Jahr Behandlung ‒ vor allem bei chronischen Schmerzen. In hochwertigen Studien gibt es allerdings nach wie vor keinen sicheren Wirkungsnachweis, und auch die Risiken einer längerfristigen Behandlung sind kaum untersucht. Bei einer Pressekonferenz zum Auftakt des Deutschen Schmerzkongresses 2021 führte Prof. Dr. med. Frank Petzke (Göttingen) für die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. aus, dass „die Behandlung chronischer Schmerzen mit medizinischem Cannabis in einem wachsenden Spannungsfeld von finanziellen Interessen, Hoffnungen der Betroffenen und einer nicht nachgewiesenen Effektivität steht“. Im ersten Halbjahr 2021 sei medizinisches Cannabis in Höhe von fast 90 Millionen Euro verschrieben worden. „Diese hohe Summe legt nahe, dass ein wirtschaftlich interessanter Markt mit erheblichen Kosten für die Solidargemeinschaft entstanden ist“, so Petzke weiter. Die Deutsche Schmerzgesellschaft fordert deshalb einen konstruktiven Dialog der beteiligten Interessensgruppen im Jahr 2022, an dem sie sich auch aktiv beteiligen wird.
Derzeit zählen manche Formen der Epilepsie, schmerzhafte Spastizität bei Multipler Sklerose und Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie bei Versagen anderer Optionen zu den Indikationen mit speziell zugelassenen cannabisbasierten Arzneimitteln, die ärztlich direkt verordnet werden können. Alle anderen möglichen Indikationen für eine Therapie mit medizinischem Cannabis – einschließlich der Behandlung von Schmerzen – benötigen ein besonderes Antragsverfahren, da keine arzneimittelrechtliche Zulassung mit entsprechendem wissenschaftlichen Wirknachweis vorliegt. Nur wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, für die die Standardtherapien bereits ausgeschöpft sind oder nicht zur Anwendung kommen können, kann die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden. Der Behandler muss zudem bescheinigen, dass eine ‒ so das Gesetz ‒ „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“.
„Patienten mit schweren Erkrankungen und Schmerzen sowie deren Ärzte haben ein gut nachvollziehbares Interesse an einer Behandlungsoption mit Cannabis“, sagte Petzke abschließend. Die geringe Evidenz und die fehlende Zulassung für viele potenzielle Indikationen erfordere aber auch eine kritische und rationale Auseinandersetzung mit Genehmigungsverfahren, sinnvollen Indikationen, tatsächlichem Nutzen, langfristigen Risiken und auch den Kosten der Behandlung.
Pressemitteilung Deutsche Schmerzgesellschaft e.V., Oktober 2021